Antje Schrupp im Netz

War die Kreuzigung notwendig?

Artikel in der efi (Evangelische Fraueninformation Bayern) 2/2012

War es notwendig, dass Jesus hingerichtet wurde? Hat die Kreuzigung eine heilsgeschichtliche Bedeutung gehabt? Darüber habe ich kürzlich in einer kleinen Gruppe mit drei anderen christlichen Theologinnen diskutiert. Wir sprachen über einen Text, den eine von ihnen zum Thema ‚traumagerechte Theologie‘ geschrieben hatte. Sie setzt sich darin mit der Frage auseinander, welche Wirkungen das Bild des unschuldig leidenden Jesus auf Menschen hat (oder haben kann), die sexuelle Gewalt erfahren haben. Immerhin wird hier ein erlittenes Unrecht positiv gedeutet. Jesus, so die verbreitete christliche Interpretation, ist für die ‚Sünden der Menschen‘ gestorben. Damit sei die Überwindung des Todes möglich geworden. Wird damit nicht die Vorstellung erzeugt, dass es notwendig sein kann, Opfer zu bringen? Was bedeutet das für Menschen, die selbst unschuldige Opfer von ungerechter Gewalt geworden sind?

Innerhalb der feministischen (christlichen) Theologie ist die Bedeutung des Kreuzes schon lange umstritten. Immer wieder haben Frauen ihr Unbehagen über die zentrale Rolle geäußert, die der Kreuzestod Jesu im Christentum hat: Soll wirklich Leid und Tod der Dreh- und Angelpunkt einer Religion sein? Ist es nicht besser, die positiven Seiten von Jesu Wirken ins Zentrum zu stellen, seine beispielhafte Zuwendung zu den Armen und Ausgestoßenen, seine Ethik?

Leiden hat keinen höheren Sinn

Was die seelsorgerliche und praktische Seite des Themas betrifft, so waren wir vier in der kleinen Diskussionsgruppe uns einig: Christliche Theologie muss im konkreten Leben – also in Predigten, im Gespräch, beim Schreiben theologischer Texte – viel mehr als bisher die Möglichkeit einkalkulieren, dass das jeweilige Gegenüber vielleicht selbst Opfer (oder auch Täter oder Täterin) einer Gewalttat ist. Keinesfalls darf der Eindruck entstehen, dass eine ‚gute Christin‘ sich in ihr Schicksal ergibt, Autoritäten nicht in Frage stellen darf und ihrem Leiden irgendwie einen höheren Sinn abgewinnen soll. Und keinesfalls dürfen Täter und Täterinnen sich darauf herausreden, dass wir doch letztlich alle irgendwie ‚sündig‘ sind.

Uneinig waren wir uns aber über die Frage, ob dieses Problem lediglich eines der Umsetzung und des Feingefühls ist – oder ob es den Kern des christlichen Glaubens selbst betrifft, also die Frage nach dem, was genau damals passiert ist und wie wir das interpretieren.

Nach Ansicht von zwei der Mitdiskutantinnen kann Jesu Tod auch anders denn als Verherrlichung der Selbstaufopferung interpretiert werden: Insofern in Jesus (nach christlichem Verständnis) Gott selbst leidet, stellt er (sie) sich an die Seite der Menschen. Gott steigt gewissermaßen von seinem oder ihrem Allmachtsthron herunter und erniedrigt sich. In keiner anderen Religion ist Gott so radikal als Mitleidende oder Mitleidender im wahrsten Sinne des Wortes gedacht. Tatsächlich hat dieses Gottesbild des unschuldig Leidenden ja zum Beispiel in der Befreiungstheologie viele Inspirationen und Impulse für eine Veränderung der Gesellschaft zum Besseren mit sich gebracht.

Gott mogelt sich nicht heraus

Ist der Kreuzestod Jesu damit aber tatsächlich eine heilsgeschichtliche ‚Wende‘ in der Beziehung zwischen Gott und den Menschen gewesen? Oder war Jesu Hinrichtung genau das, was auch jede andere Gewalt ist, die Menschen erlitten haben und heute noch erleiden, nämlich – sinnlos?

Ich würde das so sagen. Und ich glaube, dass damit nichts von der Erkenntnis, die für die Geschichte des Christentums mit der Kreuzigung verbunden ist, verloren gehen muss. Das heilsgeschichtlich bedeutsame ‚Ereignis‘ war meiner Ansicht nach nicht Jesu Hinrichtung. Die war nur eine von vielen sinnlosen Gewalttaten, wie es sie dauernd überall gibt. Man muss das nicht nachträglich mit Sinn ausstatten oder darin gar eine weltgeschichtliche Wendung im Verhältnis zwischen den Menschen und Gott ausmachen.

Allerdings ereignete sich damals dennoch etwas von großer Bedeutung: Und zwar in den Köpfen und in den Gesprächen der Menschen, die um Jesus trauerten, also in der frühen christlichen Gemeinde. Ihnen erschloss sich während sie über diesen sinnlosen und ungerechten Tod ihres Weggefährten nachdachten, ein Aspekt Gottes, der bis dahin nicht sehr verbreitet war: Nämlich dass Gott nicht der große Zampano ist, für den viele ihn hielten, nicht der Allmächtige, der nach eigenem Gutdünken in die Welt eingreift und den einen hilft und die anderen bestraft. Sondern dass Gott sich angesichts des (sinnlosen) Leidens auf die Seite der Opfer stellt, dass er oder sie mitleidet, sich nicht ‚herausmogelt‘.

Und diese Erkenntnis war das eigentlich wichtige Ereignis: Menschen erkannten, dass Gott so schwach ist wie sie selbst – aber dass sich gerade dadurch eine Perspektive eröffnet, die über das Gegebene herausführt. Sich auf Gott zu beziehen bedeutet nicht, dass man hier einen starken Kämpen zur Seite hat, sondern gerade ganz andere Maßstäbe und Orientierungsmöglichkeiten. Solche nämlich, die die innerweltlichen Machtkämpfe zwischen den Menschen transzendieren: Das bedeutet es, dass der Tod nicht das letzte Wort hat.

Diese Wahrheit über Gott erkannten die frühen Christinnen und Christen in dieser historischen Situation, vor die sie gestellt waren. Das ist schon ein großartiges Ereignis gewesen, denn das ist ja nicht leicht zu erkennen. Die Versuchung ist groß, sich Gott als stark, heldenhaft, allmächtig (männlich) vorzustellen. Es ist verlockend zu glauben, dass man als frommer Mensch quasi auf der richtigen Seite ist, der Seite der Gewinner. Sogar im Christentum, obwohl es die Kreuzigung am Anfang hat, ist dieser Irrglaube immer wieder da gewesen. Vielleicht brauchen die meisten Menschen einen so herben Rückschlag, wie die Kreuzigung es für die Jesus-Anhängerinnen und -Anhänger war, um darauf zu kommen, dass Gott genau so gerade nicht ist.

Kein Hindernis im interreligiösen Dialog

Aber, und das ist der springende Punkt: Diese Wahrheit ist nicht exklusiv christlich. Es war nicht notwendig, dass Gott in Jesus sterben musste, wie es viele Christinnen und Christen glauben. Sondern es ist nur eben zufällig so gewesen, dass es in dieser Situation dann tatsächlich erkannt wurde. Die Kreuzigung hat den Erkenntnisprozess beflügelt. Aber man kann diese Wahrheit über Gott auch anders erkennen. Es gibt nicht einen christlichen Gott, der mitleidet, und einen anderen, meinetwegen jüdischen oder muslimischen Gott, der der große Allmächtige, der Richter und Rächer ist. Sondern Gott ist, wie sie ist, und kein Mensch und keine Religionsgemeinschaft kann für sich beanspruchen, Gott endgültig und definitiv zu kennen.

In den verschiedensten Lebenssituationen erleben wir Menschen etwas von Gott, und wir können diese Erkenntnisse mit anderen teilen. Die Situationen, in denen wir etwas über Gott erfahren, sind immer zufällig, kontingent. Gott hat sich nicht in dem Moment, als Jesus hingerichtet wurde, verändert. Gott ist immer wie sie ist. Das Ereignis, das an Karfreitag und an Ostern gefeiert werden kann, ist nicht die Kreuzigung und die Auferstehung selbst – an der Kreuzigung gibt es nichts zu feiern, sie war vollkommen sinnlos, so sinnlos wie jedes unschuldige Leiden auf der Welt. Zu feiern ist lediglich der Erkenntnisgewinn, den die frühen Christinnen und Christen daraus hatten.

Auch in anderen Religionen wird ein Erkenntnisgewinn über bestimmte Seiten Gottes erreicht aufgrund von jeweiligen zufälligen Erfahrungen. Wer Gott ‚liebt‘, müsste eigentlich daran interessiert sein, darüber in einen Austausch zu kommen.

Deshalb ist auch die Frage von Kreuz und Auferstehung kein theologisches Hindernis im interreligiösen Dialog. Ein Gespräch über das Wesen Gottes, darüber, was ihr Wille ist, wie wir Menschen mit ihr oder ihm in Beziehung sind (und wie und wann nicht) – all das können Christinnen und Christen gut auch mit Menschen führen, für die der Tod von Jesus völlig irrelevant ist. Sie haben ihr Wissen über Gott eben anderswo her. Die unterschiedlichen historischen, zufälligen Geschichten der verschiedenen Menschen und religiösen Traditionen haben uns mit einem breiten Erfahrungsschatz von Gottesbeziehungen ausgestattet. Wir können sie einfach miteinander teilen.