Antje Schrupp im Netz

Gewalt gegen Frauen: In Bewegung bleiben

Vortrag zum 25. Bestehen des Frauenhauses in Soest, 28.5.2010

Seit die Frauenbewegung in den 1970er Jahren das Thema der häuslichen Gewalt in die öffentliche Diskussion gebracht hat, hat sich vieles verändert.

Damals war es ein Tabu, darüber zu sprechen, dass Gewalt nicht nur im Bereich der »Öffentlichkeit«; im Park zwischen Fremden stattfindet, sondern gerade im Intimen, dem eigentlich »geschützten« Bereich.

Die Aufdeckung von Gewalt innerhalb von Familien, innerhalb von engen Beziehungen, war deshalb so skandalös, weil es nicht nur auf einen gesellschaftlichen Missstand hinwies, der bis dahin vernachlässigt worden war, sondern weil es am grundlegenden Selbstverständnis des Patriarchats rüttelte: Wonach nämlich der Pater Familias derjenige ist, der die ihm untergeordneten Personen, Frauen und Kinder, versorgt und beschützt.

Die Skandalisierung und Veröffentlichung häuslicher Gewalt hat daher die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem hinterfragt. Gewalt in der Familie ist heute ein Straftatbestand. Vergewaltigung ist auch in der Ehe strafbar, ebenso körperliche Gewalt von Eltern gegen Kinder. Was sich innerhalb der Familie vollzieht, ist von öffentlichem Interesse – das war die Botschaft der Frauenbewegung unter dem Slogan »Das Private ist Politisch«.

Und das Thema ist in der Öffentlichkeit nicht mehr tabu. Das haben die jüngsten Debatten um den Missbrauch in der katholischen Kirche und in Reformschulen gezeigt. Was früher, vor der Frauenbewegung, unter den Teppich gekehrt worden wäre, war nun Gegenstand breiter öffentlicher Diskussionen.

Beides, sowohl die strafrechtliche Verfolgung als auch die Ent-Tabuisierung häuslicher und sexueller Gewalt ist unbestreitbar ein Fortschritt. Allerdings hat sich das Problem damit nicht erledigt. Denn häusliche Gewalt gibt es immer noch.

Ich werde in meinem Vortrag nicht der Frage nach gehen, welches die Ursachen der Gewalt sind. Dazu gibt es ja viele Forschungen, deren Wert ich nicht beurteilen kann. Ich sehe darin auch eher ein Thema, das mit der symbolischen Konstruktion von Männlichkeit zu tun hat. Zwar gibt es natürlich auch gewalttätige Frauen, aber sie sind doch eine kleine Minderheit. Gewalt wird ganz überwiegend von Männern ausgeübt.

Die Frage, die mich interessiert ist, wie wir mit dieser Tatsache umgehen. Konkret: Was können wir tun, wenn wir mit Gewalt konfrontiert sind, sei es als Opfer, sei es als Zeuginnen, wenn anderen Gewalt widerfährt.

Und zwar möchte ich mich dabei noch auf ein bestimmtes Unterthema konzentrieren, nämlich auf Gewalt in Beziehungen.

Anfangen möchte ich mit einer kritischen, auch selbstkritischen Revision der letzten Jahrzehnte, die knapp zusammengefasst vor allem eben darauf hinarbeitete, häusliche Gewalt nicht mehr als eine Privatangelegenheit der Beteiligten zu sehen, sondern als etwas, das von öffentlichem Interesse ist.

In einem zweiten Schritt möchte ich zeigen, weshalb dies nicht ausreicht, und warum es meiner Ansicht nach wieder Zeit ist, sich genauer mit dem Beziehungsaspekt zu beschäftigen, also gerade mit den Unterschieden zwischen »normaler« Gewalt und Gewalt in Beziehungen . Und zum Schluss habe ich dann einige Vorschläge zu machen, was das für die Ausgangsfrage heißt: Nämlich die, wie wir handeln können und was wir tun können, wenn wir mit Gewalt konfrontiert sind.

Dabei spreche ich hier als Politikwissenschaftlerin, nicht als Sozialarbeiterin oder Psychologin. Das heißt, ich analysiere vor allem die ideengeschichtliche Einordnung der Art und Weise, wie in unserer Kultur über das Thema diskutiert und wie es symbolisch eingebettet ist. und nicht als Expertin für sexuelle oder häusliche Gewalt. Diese Expertinnen sind Sie, und ich sehe dies hier auch als Gelegenheit zum Austausch.

Als die Frauenbewegung den Skandal der häuslichen Gewalt aufdeckte und thematisierte, fand sie ja schon eine öffentliche, männlich geprägte Kultur vor, die durchaus das Gewaltthema schon bearbeitet und Umgangsweisen damit gefunden hatte. Denn es ist ja nicht nur so, dass die meiste Gewalt von Männern verübt wird, Männer sind auch am häufigsten Opfer von Gewalt.

Geregelt und öffentlich verhandelt wird das unter dem Aspekt der »Kriminalität«, also vor Gericht. Dieses Rechtssystem ist aber vor dem Hintergrund einer Kultur entstanden, die strikt zwischen Öffentlichem und Privatem unterschieden hat. Demnach ist nur das, was sich in der öffentlichen Sphäre abspielt, relevant für das Strafrecht, während das, was Privat ist, diesem entzogen ist.

Eine wesentliche Strategie der Frauenbewegung war daher, die vermeintlich »private« Gewalt von Männern gegen Frauen und Eltern gegen Kinder aus diesem Privaten herauszuholen und zu einer öffentlichen Angelegenheit zu machen. Konkret: Aus Vergewaltigung und Kindesmisshandlung Straftatbestände zu machen.

Diese Argumentationslinie ist heute allgemein gesellschaftlich akzeptiert. Zum Beispiel war eine Hauptforderung, die von weltlicher Seite im Bezug auf die katholische Kirche vorgebracht wurde, dass sie Missbrauchsfälle der Staatsanwalt übergeben soll. Sicher ist das notwendig. Aber es wäre falsch zu glauben, dass das ausreichen würde. Die andere Seite, dass die Kirche diese Fälle intern diskutieren muss, ist mindestens ebenso wichtig. Ähnlich wie es eben in Fällen familiärer Gewalt nicht ausreicht, Opfern die Option Strafrecht zu geben, sondern es müssen die Familienstrukturen selbst hinterfragt werden.

Denn das Rechtssystem geht von seiner Logik her davon aus, dass es zwischen Menschen vermittelt, die keine persönliche Beziehung zueinander haben. Das Recht ist unpersönlich. Es setzt auf abstrakte, allgemeingültige Normen (»ohne Ansehen der Person«) und einen »unparteiischen« Schiedsrichter.

In Fällen häuslicher Gewalt oder auch bei Gewalt in Schulen, Kirchen etc. geht es aber nicht um Fremde, die gegeneinander gewalttätig sind, sondern um Beziehungen. Es handelt sich hier um Konflikte und Herrschaftsverhältnisse, die eben gerade nicht »ohne Ansehen der Person« diskutiert werden können.

Von daher war die frühere, patriarchale Trennung zwischen »privat« und »öffentlich« nicht einfach willkürliches Machtgehabe von Männern, sondern hatte eine gewisse innere Logik. Denn so, wie das Strafrecht sich entwickelt hat, ist es in der Tat gelingenden Beziehungen zwischen Menschen nicht förderlich. Oder anders gesagt: In dem Moment, wo das Recht seinen Lauf nimmt, hört es auf, sich um ein Beziehungsproblem zu handeln.

Ich denke, wir sehen heute besser als vor dreißig, vierzig Jahren, dass die reine »Veröffentlichung« häuslicher, also privater und intimer Verhältnisse, keine Lösung sein kann. Oder, philosophischer gesprochen: Es geht nicht um die Frage, ob häusliche Gewalt entweder eine Privatangelegenheit oder eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse ist. Sondern die Herausforderung besteht gerade darin, dass sie beides ist. Dass hier Öffentliches und Privates eben gerade nicht fein säuberlich getrennt ist, wie in der patriarchalen Kultur angelegt, sondern dass es sich durchmischt, verbindet, ohne jedoch zu verschmelzen.

Oder, noch anders gesagt: Wenn man häusliche Gewalt als Thema einfach nur aus dem Privaten in das Öffentliche verschiebt, hat man die patriarchale Logik noch nicht prinzipiell verlassen, sondern nur die Inhalte neu sortiert, also quasi ein Thema von einer Schublade in eine andere Schublade umgeräumt. Notwendig ist es aber, die Schubladen jeweils zu verändern.

Ich denke, dass die Frauenberatungsstellen, die aus der Frauenbewegung hervorgegangen sind, sich dieses Problems durchaus bewusst sind. Denn es stellt sich ja im Alltag derer, die mit häuslicher Gewalt konfrontiert sind, ganz evident. Aber im öffentlichen Diskurs spiegelt sich das noch nicht genügend wieder.

Es gibt viele Gründe, warum das das Recht nicht ausreicht, um die Gewaltproblematik in Beziehungen zu bearbeiten. Im Gegenteil: Letzten Endes kann das Recht nur greifen, wenn die Beziehung bereits aufgelöst ist. Das aber ist gerade von den Opfern nicht immer gewünscht. Und selbst wenn: Die Trennung, das Beenden der Beziehung, ist ein notwendiger Zwischenschritt, der eigentlich erst einmal erfolgen muss, bevor das Strafrecht greifen kann.

Aber oft wird dieser Schritt nicht bewusst vollzogen, er wird sozusagen übersprungen und mit der Strafanzeige wie nebenbei vollzogen. In der Beratungspraxis spielt genau das, wie ich annehme, eine große Rolle – also was genau es für die Beziehungsstrukturen bedeutet, wenn Gewalt öffentlich gemacht wird. Aber in den öffentlichen Debatten zu dem Thema nicht.

Hier ist ein erster Punkt, wo häusliche Gewalt, also Gewalt innerhalb von intimen Beziehungen, nicht ohne weiteres nach derselben Logik verhandelt werden kann, wie Gewalt unter Fremden: Man kann gerichtlich nur gegen einen Täter sinnvoll vorgehen, wenn das Opfer es will. Hat das Opfer die Beziehung aber noch nicht beendet, sieht es den Täter also nicht als Fremden an, wird es kompliziert. Dann kann sich leicht ein Konflikt zwischen dem öffentlichen Interesse und dem Interesse des Opfers ergeben: Als Gesellschaft wollen wir, dass gewalttätige Väter oder Brüder bestraft werden, aber die betroffenen Töchter oder Schwestern wollen uns vielleicht nicht die »Beweise« dazu liefern.

Zumal das, was sich Opfer von Gewalt tatsächlich wünschen, vom Gericht keineswegs garantiert werden kann. So wünschen sich Frauen nach einer Vergewaltigung vor allem ein Schuldeingeständnis seitens des Täters und die Sicherheit, dass es sich nicht wiederholt. Beides kann das Strafrecht aber nicht gewährleisten. Das Strafrecht funktioniert unabhängig davon, ob der Täter seine Schuld eingesteht oder nicht, sie wird ja »objektiv« bewiesen.

Schuldeingeständnisse können zwar strafmildernd wirken, aber sie sind nicht notwendig. Der Wunsch des Opfers, der Täter möge seine Schuld eingestehen, ist auf den Erhalt der Beziehung ausgerichtet. Die ist dem Recht aber egal, weil es ja ohnehin außerhalb der Beziehungslogik agiert.

Aber es gibt noch mehr Punkte, wo die öffentliche Verhandlung häuslicher Gewalt Probleme für das Opfer mit sich bringt – insbesondere wenn wir berücksichtigen, dass Öffentlichkeit heute immer auch Medienöffentlichkeit heißt.

Vor Gericht müssen sich Opfer einer »Glaubwürdigkeitsprüfung« unterziehen, und im Zweifel muss für den Angeklagten entscheiden werden. Oder: Das Opfer muss im Prozess die Situation noch einmal durchleben. Das alles ist kein Problem, wenn es um einen fremden Täter geht, mit dem mich nichts emotional verbindet. Aber bei Gewalt in einer Beziehung ist es eben schwierig.

Gleiches gilt für die Sicherheit, dass es sich nicht wiederholt. Das Recht greift erst im Nachhinein. Präventivstrafen vertragen sich nicht mit dem Rechtsgrundsatz. Darüber gibt es ja auch immer wieder Diskussionen, wenn etwa gefährliche Personen nicht inhaftiert werden.

Ebenso wie an einem anderen Punkt, den ich besonders wichtig finde: Die Basis jeden Gewaltsystems sind nicht die Täter, sondern die Mitläufer. Sie ermöglichen erst gesellschaftliche Strukturen, die in Einzelfällen dann in Gewalt resultieren. Das Recht greift aber nur die Täter an, nicht die Mitläufer (im Film »Angeklagt« mit Jodie Foster war das Thema).

Das heißt, es gibt nach wie vor eine grundsätzliche Inkompatibilität zwischen dem öffentlichen Rechtssystem und dem Bereich privater Beziehungen, die nicht aufgelöst wurden, indem man den Privatbereich einfach dem Recht unterstellt. Zwar hat es in den letzten Jahren einige Modifikationen am Rechtssystem gegeben, die in diese Richtung gehen, aber eigentlich müsste man darüber viel grundsätzlicher nachdenken.

Gewalt in Beziehungen, und damit komme ich zu meinem zweiten Punkt, unterscheidet sich in wesentlicher Hinsicht von Gewalt unter Fremden. Im zweiten Fall geht es nur um die Gewalt als solche. Ich wurde verletzt, und diese Verletzung kann als »Schaden« rationalisiert werden. Es kann der Täter bestraft werden und mir eine Entschädigung zugesprochen werden. Dinge also, die sich vor Gericht regeln lassen.

Im zweiten Fall geht gerade nicht nur um die objektive Größe des Schadens, den ich als Person erlitten habe. Es geht gleichzeitig darum, dass eine Beziehung, die mir entweder wichtig ist, oder in der ich in einer Position der Abhängigkeit involviert war (speziell Kinder), auf die ich also angewiesen bin, Schaden genommen hat. Dieser Beziehungsschaden macht dem Opfer möglicherweise mehr zu schaffen, als die Verletzung als solche.

Und ein entscheidender Punkt dabei ist, dass die Opfer – anders als bei »fremder« Gewalt, selbst als Person involviert sind. Genau darin liegt der Unterschied, ob ich von einem Fremden oder von einem Freund verletzt werde. Der Unterschied liegt in dem, was die Verletzung bedeutet:

Werde ich (etwa bei einer Demonstration) von einem »Feind« angegriffen, etwa irgendwelchen Neonazis, kann das mein Selbstbild steigern, quasi ist es ein revolutionärer Akt des Widerstandes. Dass ich verletzt wurde, macht mich zur Heldin. Werde ich (im Park) von einem Wildfremden angegriffen, ist das Pech. Ich kann mich wehren mit Hilfe der Polizei und des Rechtssystems.

Werde ich hingegen von einem Freund angegriffen, geht das an mein Selbstbild: Ich war es ja, die mir den zum Freund gemacht hat. Ich bin also nicht nur unschuldiges Opfer, wie im Park, ich bin keine Heldin, wie in der Konfrontation mit Neonazis, ich bin selbst Täterin. Ich war an dem Geschehen aktiv beteiligt – aber eben nicht auf eine Weise, die mir Ehre macht, sondern die mich beschämt.

Das einzige, was in allen drei Fällen gleich ist, ist die Verletzung selbst in ihrer materiellen Seite. Die Bedeutung, die ich dieser Verletzung gebe, ist aber völlig unterschiedlich. Über diese Bedeutungen müssen wir sprachfähig werden. Und da reicht es nicht, zu beteuern, dass die Opfer auch im dritten Fall keine Schuld haben, dass es die gesellschaftlichen Umstände sind, die Sozialisation, die Ungerechtigkeit, das Patriarchat. Denn das umfasst nicht das ganze Dilemma. Es hält die Opfer im Opferstatus. Die Subjektwerdung, um die es geht, ist nur möglich, wenn man sich der eigenen Beteiligung stellt und sie nüchtern und ohne moralisch zu werden analysiert.

Wir haben keine guten Worte dafür, wie man ja schon an der problematischen Terminologie »Gewalt« und »Missbrauch« sieht. Missbrauch klingt zu harmlos, so als gäbe es einen »richtigen« Gebrauch. Gewalt hingegen weckt auch falsche Assoziationen, vieles läuft subtil und ohne »echte« Gewalt, etwa im Sinne von äußeren Verletzungen, ab.

Ein Beispiel: Eine Jugendliche kommt durch die Beziehung zu einem älteren Mann aus Gewaltstrukturen in ihrer Familie heraus. Sie bekommt durch ihn Anerkennung, das Gefühl, »begehrt« zu werden, und gibt ihm dafür Sex. Ist das Missbrauch? Das Entscheidende: Das Gefühl des Mannes ihr gegenüber ist nicht sozialarbeiterisch. Dennoch ist die Beziehung nicht herrschaftsfrei. Aber ist sie »Gewalt«? Wer hat das zu beurteilen?

Es ist durchaus problematisch, den Gewaltbegriff zu sehr auszudehnen und jede Art von Dominanz mit Gewalt gleichzusetzen. Ich finde da die Unterscheidung von Hannah Arendt zwischen Macht und Gewalt hilfreich. Gegen Gewalt hilft nichts, es ist eine physische Bedrohung, die aus Stärke resultiert (die Situation im Park, die randalierenden Neonazis). Dagegen lässt sich nichts machen.

Macht hingegen resultiert aus einem Umfeld, in dem die Mehrheit und die Kultur den Täter stützt. Hier gibt es politische Handlungsoptionen, gesellschaftliche Diskurse, hier geht es um Sprache und Sprechen. Hier bin ich selbst beteiligt. Diese Unterscheidung ist wichtig.

Ein Beispiel, wo es der Frauenbewegung gelungen ist, Geschehnisse aus dem Kontext der alten männlichen symbolischen Ordnung zu lösen und sie eigenständig zu interpretieren, sind Vergewaltigungen. Eine Vergewaltigung ist ein körperlicher Gewaltakt, der aber in unserer Kultur der Jungfräulichkeit und des unberührten weiblichen Körpers lange Zeit hoch symbolisch aufgeladen war. Vergewaltigte Frauen wurden als schuldig angesehen, weil sie ihre Unversehrtheit nicht mehr haben. Vergewaltigung lag im Bereich der Scham, nicht im Bereich des Pechs.

Hieran lässt sich symbolisch arbeiten. Sodass die Vergewaltigung als Tat ihre symbolische Aufladung verliert. Das ist weitgehend gelungen, allgemeingesellschaftlich haben wir heute eher Mitleid mit einem Vergewaltigungsopfer als dass wir ihr die Schuld geben.

Allerdings war auch hier die klassische Argumentationsweise der Frauenbewegung ambivalent, denn sie versuchte – um die Bedeutung der Sache hervorzustreichen – eine Vergewaltigung besonders monströs erscheinen zu lassen. In einer kleinen Frauengruppe hatten wir dazu mal eine kontroverse Diskussion. Wir fragten uns, was wir schlimmer fänden: Vergewaltigt zu werden oder einen Finger abgehackt zu bekommen. Das hört sich vielleicht makaber an, aber genau solche Gespräche sollten wir führen, um der Gewalt, die geschieht, einen Platz in unseren Erfahrungsräumen zu geben, um sie nicht im Tabu und im Dunkel zu lassen, sondern sie uns anzueignen.

Ich war in dieser Diskussion auf Seiten derer, die lieber vergewaltigt werden würden, als sich einen Finger abhacken zu lassen. Einfach weil ich glaube, dass auf einer rein körperlichen Ebene das Finger abhacken mir mehr weh tun würde und ich mir einbilde, die symbolischen Seiten einer Vergewaltigung verarbeiten zu können. Aber da ich weder das eine noch das andere bisher erlebt habe, kann ich darüber natürlich nur spekulieren.

Wichtig ist, dass es bei diesen Gesprächen nicht um die objektiv richtige Interpretation geht, sondern um Subjektivität: Ich sage, was eine Vergewaltigung für mich bedeutet. Die Frau bekommt die Definitionsmacht über das, was ihr widerfährt und worin sie selbst in Bezogenheit involviert ist. Es gibt keine richtige Interpretation, sehr wohl aber die Notwendigkeit, über meine subjektive Sicht mit anderen zu diskutieren und zu verhandeln.

Das ist also weit mehr als ein sozialarbeiterischer Zugang. Es geht darum, eine symbolische Ordnung schaffen, in der Gewalterfahrungen einen realistischen Platz haben und der Umgang damit eine kulturelle Fähigkeit ist, in gewisser Weise »normal« wird, so wie der Umgang mit anderen Widrigkeiten und Hindernissen und Problemen.

Durch das Erzählen der eigenen Geschichte kann die erfahrene Gewalt in das eigene Erleben integriert werden und ihre monströsen Formen verlieren. Das Trauma verschwindet nicht, verliert aber seine Bedeutung, das Selbstbild lebt dann nicht mehr allein von der Traumatisierung, sondern die Betroffene hat selbst das Heft in der Hand. Sie erzählt, was passiert ist, sie interpretiert und bewertet, sie ist nicht mehr Opfer oder Überlebende, sondern Handelnde. Die erfahrene Gewalt ist ein Teil ihrer Geschichte und wird es immer bleiben, aber sie behält nicht die Oberhand.

Gewalterfahrungen müssen also sprachfähig werden, sie müssen Gegenstand kultureller – und eben nicht nur rechtlicher – Verhandlungen sein. Gefährlich sind sie nämlich für die Psyche vor allem dann, wenn sie nicht angebunden sind an Erfahrungen. Dann werden sie verdrängt, können nicht verhandelt werden, das Opfer bleibt Opfer und kann nicht handeln.

Ich habe vor vielen Jahren mal einige Monate in Italien gelebt, und eines ist mir davon noch eindrücklich in Erinnerung: die Offenheit, mit der die Frauen dort über Gewalt und Ungerechtigkeit in der Familie und in den Beziehungen miteinander redeten. Natürlich hatte das auch die Funktion, dass sie sich mit ihrer Lage arrangieren. Allerdings habe ich heute oft den Eindruck, dass gerade die öffentliche Präsenz des Gewaltthemas solche Gespräche unter Frauen erschwert: Denn diejenige, die zugibt, familiärer Gewalt ausgesetzt zu sein, müsste dann sofort hören, dass sie doch etwas dagegen unternehmen muss, ihn anzeigen zum Beispiel.

Die Folge ist dann genau das, was wir mit der Thematisierung eigentlich überwinden wollten, nämlich Scham. Eine Scham, die wieder größer wird. So geht die Polizei davon aus, dass die Dunkelziffer von nicht angezeigten häuslichen Vergewaltigungen wieder ansteigt – nicht mehr aus Scham darüber, vergewaltigt zu werden, sondern aus Scham darüber, nicht »emanzipiert« genug zu sein, um sich einen besseren Mann gesucht zu haben. Das schlechte Gewissen, den falschen Mann gewählt zu haben. Das Motiv »selbst Schuld« kehrt sozusagen in einem emanzipierten Gewand wieder. Das Ideal der starken Alphamädchen lässt diejenigen, die dennoch Gewalt erleiden, schwach und defizitär aussehen.

Manchmal wird von feministischer Seite dagegengehalten, dass es Gewalt doch überall gibt. Dass sie in den besten Familien vorkommt. Das stimmt einerseits, andererseits aber auch nicht. Es ist ja nicht wahr, dass »alle Männer potenzielle Vergewaltiger sind«, wie es in der Frauenbewegung manchmal hieß. Ich bin mir zum Beispiel sicher, dass mein Mann mich nicht vergewaltigen wird.

Frauen sind Gewalt in Beziehungen nicht hilflos ausgeliefert, es gibt Kriterien und Erfahrungen dazu, wie Beziehungen möglich sind, ohne dass sie ein Ort für Gewalt werden.

Zum Nachdenken über gelingende Beziehungen gehört zweierlei: Das Beenden von unguten Beziehungen UND das Eingehen und Pflegen von guten Beziehungen. Vielleicht haben wir in der Frauenbewegung zu viel Aufmerksamkeit auf die schlechten Beziehungen und die Kritik daran gelegt und zu wenig Aufmerksamkeit auf die guten Beziehungen und die Frage, wie sie eigentlich zustande kommen.

Das fiel mir auf, als ich vor einiger Zeit in einem Frauenzentrum war, und die Gespräche drehten sich darum, wie schwierig Beziehungen zu Männern seien. Dann fragte ich mal in die Runde, wie es denn bei uns persönlich ist. Und siehe da, die meisten von denen, die nicht lesbisch waren, lebten in sehr langen, sehr guten Beziehungen mit Männern. Aber jede dachte, dass sie sozusagen eine Ausnahme darstellt. Warum eigentlich? Meine These ist: Feministinnen haben im Schnitt die besseren Liebesbeziehungen zu Männern. Wir sollten daraus einen positiven Schluss ziehen: Wie gelingt uns das, was können wir daraus an positiven Vorbildern weitergeben?

Welche Denk- und Erfahrungsprozesse haben wir durchlaufen, um zu verstehen, dass Gewalt und Liebe nicht zusammengeht? Wo genau ist der Unterschied, wenn wir etwas tun, »ihm zuliebe« und wenn eine Frau sich schlagen lässt, »aus Liebe«?

Wir als Frauen aus der bürgerlichen Mittelschicht haben es relativ leicht mit der Option, ungute Beziehungen zu beenden. Wir leben nicht mehr in Milieus, wo man dafür schief angeschaut wird, und wir verdienen meistens auch genug Geld. Aber für viele Frauen, die in traditionelleren Milieus leben, ist das viel problematischer. Und viele von ihnen, gerade unter den Migrantinnen und Migranten, sehen diese »westliche« Entwicklung hin zur Individualität, die leicht auch Beziehungslosigkeit bedeuten kann, zudem skeptisch, vielleicht mit gutem Grund.

Das heißt: Bevor wir ihnen die Lösung »Trenn dich von deinem Mann und zeig ihn an« vorschlagen, müssen wir uns auch fragen, was wir ihnen denn als Alternative zu bieten haben? Das vereinsamte Single-Dasein, das ja auch westliche Kulturpessimisten gerne mal an die Wand malen?

Ich meine nicht. Ich meine, wir haben Alternativen zu bieten, bessere, sozialere, gelingendere, gewaltfreie Beziehungen – aber wir reden zu wenig darüber. Wir reden zu viel darüber, was bei ihnen schlecht ist und zu wenig darüber, was bei uns gut ist.

Ich kann das hier nicht weiter ausführen, denn das wäre ein eigenes Vortragsthema, möchte Sie aber auf die Bücher der afroamerikanischen Aktivistin bell hooks verweisen, die das Thema großartig bearbeitet. Und sehr plausibel macht, dass es in gelingenden Beziehungen keine Gewalt gibt, dass genau das eine große Lüge der patriarchalen Liebeskonzepte ist. Wo Gewalt ist, ist keine Liebe. Und Versöhnung kann nicht individuell von Opferseite aus hergestellt werden. Wenn das versucht wird, wird der Missstand objektiv verlängert. Vergebung zu verweigern, weil der Täter nicht voll die Verantwortung trägt, ist also eine politische Notwendigkeit.

Ein zweiter, wichtiger Punkt, an dem die Entwicklung in den letzten Jahrzehnten aus meiner Sicht problematisch war und die guten Grundlagen der feministischen Analyse von häuslicher Gewalt konterkariert, ist die Instrumentalisierung des Themas.

Auch diese Instrumentalisierung ist eine Folge davon, dass wir nicht genug über die Vermischung von Öffentlichkeit und Privatheit nachdenken, sondern das Thema ganz und gar der Öffentlichkeit anvertrauen. Das bringt mit sich, dass die Aufmerksamkeit für den konkreten Fall überlagert wird von anderen Interessen und dass immer die Gefahr besteht, das Thema zu instrumentalisieren.

Am aktuellen Beispiel wurde immer wieder so argumentiert: Die Missbrauchsfälle zeigen, dass die Kirche böse ist, dass die 68er böse waren. Patriarchale Gewalt zeigen, dass Migranten böse sind. Weil sie dort so gewalttätig gegen Frauen sind, marschieren wir in Afghanistan ein.

Das Thema Gewalt eignet sich gut, für politische Zwecke und zur Ablenkung von der eigenen Verantwortlichkeit instrumentalisiert zu werden – wie alles im Bereich der Parteipolitik und des Lobbyismus. In diesem Fall ist das aber besonders problematisch, weil es den Opfern wirkliche Hilfe vorenthält, während man vorgeblich so tut, als wolle man ihnen helfen. Aber in Wahrheit geht es um etwas anderes.

Auch in der Frauenbewegung gab es leider manchmal Tendenzen, Gewalt an Frauen und Kindern zur Legitimation der eigenen Wichtigkeit zu instrumentalisieren. Ich selbst habe eine Freundin, die vergewaltigt wurde und sich bei einem Frauennotruf beraten ließ, und die das als sehr unangenehm empfunden hat, wie sie dort als Opfer behandelt wurde, obwohl sie sich gar nicht so fühlte. Sicher, das mag ein Einzelfall sein und es ist auch schon lange her, aber ich hätte mir gewünscht, dass über Katharina Rutschkys Thesen mehr inhaltlich diskutiert worden wäre, denn sie war eine kluge Denkerin.

Nicht nur das Strafrecht, sondern überhaupt jede »Theorie« über den »richtigen« Umgang mit Gewalt abstrahiert von der konkreten Situation. Notwendig ist es also, neben solchen »abstrakten« Theorien, Praxis im konkreten Umgang mit Gewalt zu haben, sozusagen Übung im Umgang damit, wenn uns Gefahr begegnet, uns selbst oder anderen.

Und hier komme ich zu meinem letzten Punkt: Was können wir tun, wenn wir mit Gewalt konfrontiert sind? Diese Frage zu stellen ist ein allgemeiner gesellschaftlicher Auftrag, der auch diejenigen angeht, die selbst keine Gewalt erlebt haben. Ich erinnere mich an eine Veranstaltung mit Luisa Muraro vor einigen Jahren, wo sie über die Freiheit muslimischer Frauen sprach. Bei der anschließenden Diskussion kamen aus dem Publikum Einwände, eine Frau erzählte von einer Muslima, die sie kennt, und die patriarchaler Gewalt von Seiten ihres Vaters und ihrer Brüder ausgesetzt war. Muraros Rückfrage hat mich sehr beeindruckt. Sie fragte schlicht: Und, was habt Ihr getan, als ihr davon hörtet? Wie habt Ihr dieser Frau geholfen?

Es kommt auf Achtsamkeit und Geistesgegenwärtigkeit im Umgang mit Gewalt an. Wir dürfen solche »Fälle« nicht nur in der Schablone einer allgemeinen Theorie, der Justiz, des Feminismus usw. sehen, sondern in ihrer Kontingenz, also in ihrer Konkretheit und DANN etwas jeweils Angemessenes tun. Und über diese Erfahrungen sprechen und voneinander lernen. Ohne immer aus allem gleich eine allgemeine Regel zu machen.

Mich hat ein Text sehr beeindruckt, in dem Rebecca Ann Parker (in dem Buch »Proverb of ashes« sehr eindrücklich schildert, wie sie ihre Vergewaltigung durch einen Nachbarn erlebt hat. Sie schreibt: »Dann sah ich, dass meine Mutter und meine Großmutter bei mir waren. Sie konnten sehen, was Frank tat. Ihr Blick war machtvoll. Sie würden ihn nicht davonkommen lassen. Ich fühlte mich beruhigt und gestärkt durch ihre Gegenwart. .. Es war ein Kraftfeld der Gegenwärtigkeit, das auch Frank umschloss. … Diese Gegenwärtigkeit konnte den Mann nicht davon abhalten, mich umzubringen, wenn er das wollte. Und, gleichzeitig, konnte sie ihn stoppen. Weil ich weiß, dass wenn er sie bemerken würde, er gestoppt wäre. Er würde nicht weitermachen können. Niemand könnte das. Man kann sich nicht dieser Gegenwärtigkeit bewusst sein, und das tun, was dieser Mann mir antat. Und tatsächlich wurde der Mann gestoppt. Die Gegenwärtigkeit rettete mein Leben, das ist es, was ich glaube. Aber es hätte auch sein können, dass er nicht gestoppt worden wäre. Er hätte mich töten können. Mörder töten. Die Nazis haben getötet. Männer töten ihre Frauen und Kinder. Ich weiß, dass wenn er mich getötet hätte, dann weil er die Gegenwärtigkeit vollständig geleugnet hätte. Ein solches Leugnen ist vollkommen möglich und passiert ständig.«

Die Anwesenheit von Mutter und Großmutter, ihre »Gegenwärtigkeit«; beschränkt sich darauf, zu beobachten. Dass sie das Unrecht nicht übersehen, und eine Bindung zum Opfer herstellen, die nicht durch die Tat oder den Täter zerstört werden kann. Wenn Gewalt verhindert wird, dann deshalb. Weil andere bezeugen, was geschieht, dass das Opfer »nicht Schuld« ist.

Parker stellt eine Verbindung zwischen der Vergewaltigung und den Nazis da. Und tatsächlich kann Zeuginnenschaft der Gewalt sowohl im Privaten, Intimen, als auch im Großen, Politischen etwas entgegen setzen.

Die Journalistin Carolin Emcke hat in ihrem Buch »Von den Kriegen« Briefe an Freunde und Freundinnen dokumentiert, die sie geschrieben hat, während sie als Reporterin im Kosovo, im Libanon, im Irak und in Afghanistan war. Sie hat die dort geschehene Gewalt festgehalten und überliefert. Nicht in »objektiven« Nachrichten, sondern als subjektive Berichte. Gerade mit dieser Subjektivität der Beobachterin (die eben etwas anders ist als der »objektive« Blick der Richterin, des Sozialarbeiters, der Politik) gibt sie den Opfern ihren Subjektstatus zurück.

Sie bezeugt, was geschieht. Als Privatperson, nicht mit einer offiziellen Beauftragung. Sie bringt sich mit ihrer Subjektivität ein, sie schaut nicht weg, sie verschließt nicht die Augen, sie delegiert das Thema nicht an die »zuständigen Stellen.« Diese »Zeuginnenschaft« ist eine wichtige Aufgabe von Nicht-Opfern in Gesellschaften, in denen Gewalt existiert. Und natürlich nicht nur auf politischer, sondern auch auf privater Ebene.

Worum es letztlich geht, das ist weiblicher Subjektivismus. Wenn eine Frau eine Geschichte erzählt, dann verhindert sie damit, in die Debatten über die Theorien anderer hineingezogen zu werden. Sie verhindert, dass das, was ihr widerfahren ist, instrumentalisiert wird. Und das kann sie nur, wenn sie ein Gegenüber hat, wenn es Zeuginnen ihres Leidens und ihres Handelns gibt. In der Zeuginnenschaft, die sowohl die Bereitschaft zum persönlichen Involviertsein als auch die Bereitschaft, für das Gesehene geradezustehen, fließen Öffentlichkeit und Privatheit zusammen.