Antje Schrupp im Netz

Frauenbeziehungen und Frauenpolitik

Ich weiß nicht, ob Sie den neuen Film von Fatih Akin gesehen haben, »Gegen die Wand«. Mich hat dieser Film sehr beeindruckt. Es ist ein Film über eine junge Frau, die aus den Beschränkungen ausbricht, die die Tradition ihrer türkischen Herkunftsfamilie ihr auferlegen. Mich hat der Film deshalb so beeindruckt, weil er die Stärke des weiblichen Begehrens zeigt. Das Begehren dieser Frau ist so stark, dass sie unmögliche Dinge tut, zum Beispiel einen wildfremden Mann heiraten. Sie riskiert viel, setzt alles auf’s Spiel, was sie hat, sogar ihr Leben. Der Film zeigt aber nicht nur die Stärke des weiblichen Begehrens, er zeigt auch das Leiden einer Frau, die mit ihrem Begehren in der Welt keinen Ort findet. Das ist meiner Ansicht nach kein spezielles Problem einer türkischen Migrantin, sondern ein Problem aller Frauen: Wir haben es mit einer Welt zu tun, die auf das weibliche Begehren nicht gewartet hat.

Über Frauenpolitik zu sprechen – oder, wie ich lieber sage, über eine Politik der Frauen, denn die Frauen sind nicht das Objekt der Politik, sondern ihre aktiven Subjekte – über eine Politik der Frauen also zu sprechen, das heißt für mich, über das weibliche Begehren zu sprechen. Denn das Begehren ist es, was eine Frau aktiv werden lässt, die Motivation, aus der heraus sie politisch handelt. Aber wie kann eine Frau politisch handeln, wenn sie es doch mit einer Welt zu tun hat, in der ihr Begehren keinen Ort findet? Die auf ihr Begehren nicht gewartet hat?

Nicht immer äußert sich diese Heimatlosigkeit des weiblichen Begehrens so krass und gewalttätig wie im Fall dieses Films, doch das Phänomen ist dasselbe. Wir begehren, und die Welt findet keinen Ort für unser Begehren. Im Film bleibt der jungen Frau am Ende die Alternative zu sterben, im Kampf für ihre Freiheit getötet zu werden, oder aber sich doch wieder herkömmlichen Rollenbildern anzupassen, in diesem Fall brave Mutter und Ehefrau zu sein. Der Regisseur Fatih Akin hat auf das Problem des heimatlosen weiblichen Begehrens keine Antwort gefunden – finden wir eine?

Ich glaube, die Frauenbewegung, oder zumindest Teile von ihr, haben eine Antwort gefunden. Der Ort, den weibliches Begehren braucht, um in der Welt wirksam zu werden, heißt: weibliche Autorität. Beziehungen zwischen Frauen, in denen das weibliche Begehren eine Autorität findet, die eine Vermittlung ist zwischen der Größe dieses Begehrens und der Welt, so wie sie nun einmal ist. Solche Beziehungen sind die Grundlage von weiblicher Freiheit und die Voraussetzung dafür, dass Frauen politisch aktiv werden. Sie ermöglichen es, dass Frauen stark sind, dass sie ihre Anliegen und Forderungen in die Welt tragen und die Welt verändern können.

Die Art und Weise, wie Frauen Beziehungen untereinander haben – seien es Freundschaften, Liebesbeziehungen, Arbeitsbeziehungen, Nachbarschaften, gemeinsames politisches Engagement – sind also nicht einfach nur ihre Privatangelegenheit. Sie haben eine politische Dimension.

Dass die Politik der Frauen etwas mit Autorität zu tun hat, finden Sie vielleicht im ersten Moment merkwürdig, zumal Autorität ja hier zu Lande einen eher negativen Klang hat. Die spontane Antwort auf die Frage nach dem Zusammenhang von Frauen und Politik wäre vielleicht eher: weibliche Solidarität.

In der Tat hat sich die Frauenbewegung erst einmal in Richtung Gleichheit und Solidarität entwickelt, und das ist auch verständlich. Denn dies ist die Tradition der sozialen Bewegungen in Europa: Auch die Arbeiterbewegung hat sich unter dem Banner der Solidarität zusammengeschlossen. Und die Frauenbewegung ist ja auch aus der Studentenbewegung heraus entstanden.

Ein Problem dabei war jedoch, dass bald der Anschein entstand, alle Frauen wären irgendwie gleich, gleichermaßen unterdrückt, mit gleichen Interessen und so weiter. Es war das Bild der Solidarität, ausgedrückt in dem Motto: »Frauen gemeinsam sind stark«. Es ging darum, sich zusammenzuschließen, gegen die Übermacht des Patriarchats anzutreten. Das heißt, diese Politik tendierte dazu, die Unterschiede zwischen Frauen zu ignorieren oder herunterzuspielen, die Frauen nur als Opfer zu sehen und eine Art sozialer Kontrolle zu etablieren, die jede Frau, die sich anders verhielt oder anderer Meinung war, dem Verdacht aussetzte, unsolidarisch zu sein.

Man könnte natürlich einwenden, dass es – bei aller individuellen Freiheit – doch objektive Interessen von Frauen gebe, zum Beispiel die, mit einem angemessenen Anteil in den gesellschaftlichen Institutionen vertreten zu sein. Und genau mit diesem Argument hat sich die Frauenbewegung zuweilen als Stellvertreterin, als Repräsentantin der Frauen verstanden. Denn wenn man davon ausgeht, dass alle Frauen gemeinsame Interessen haben, dann lässt sich die Durchsetzung dieser Interessen natürlich auch delegieren. Das funktioniert aber mit dem Begehren ganz und gar nicht. Das Begehren lässt sich nicht delegieren. Es ist immer persönlich, untrennbar mit mir, mit dir, mit einer konkreten Frau verknüpft.

Inzwischen hat sich aber die »Frauenbewegung« sehr ausdifferenziert. Wir haben Frauenpolitikerinnen in den Parteien, Gleichstellungsbeauftragte in Turnvereinen, auf der anderen Seite Matriarchatsforscherinnen und andere Frauengruppen, die sich bemühen, etwas spezifisch »Weibliches« ausfindig zu machen, wir haben eine breite, universitäre Frauenforschung, die eine Fülle von Literatur etwa über Frauen in der Geschichte hervorgebracht hat, wir haben philosophische Theorien kennen gelernt, wonach das Geschlecht überhaupt etwas Künstliches sein soll, das wir »dekonstruieren« müssen. Oder man denke nur an den aktuellen »Kopftuchstreit«, in dem sich muslimische Feministinnen und emanzipationsorientierte Feministinnen gegenüber stehen. Es gibt nicht mehr »die Frauenbewegung«, sondern eine Fülle von unterschiedlichen Ansätzen und Projekten, die sich teilweise krass widersprechen.

Was wäre aber die Alternative? Wozu brauchen wir Feminismus, wenn doch jede Frau etwas anderes will? Welchen Sinn hat es überhaupt, von Frauen zu sprechen, wenn doch jede Frau ihrem persönlichen Begehren folgt, und gar nicht festgelegt sein soll, was weiblich ist, weder durch eine angebliche Natur, ein angeblich weibliches Wesen, aber auch nicht durch Sozialisation und Erziehung?

Die Antwort liegt meiner Ansicht nach darin, dass eine Frau in erster Person spricht. Dass sie beim Sprechen deutlich macht, dass sie eine Frau ist, dass sie aber gleichzeitig nicht für »die Frauen« spricht, sondern für die ganze Welt. Dass ich eine Frau bin, ist eine Tatsache. Und ich weiß auch, dass diese Tatsache nicht unerheblich ist, dass es nicht egal ist, dass ich eine Frau bin, sondern dass dies etwas ganz Wesentliches ist. Aber wenn ich es inhaltlich festlege, wenn ich es fülle mit konkreten Ansichten, Forderungen, Überzeugungen, dann spreche ich von mir, Antje Schrupp, die eine Frau ist. Ich bin nicht die Repräsentantin für andere Frauen, und ich lasse mich auch nicht von anderen Frauen repräsentieren. Aber wenn ich in erster Person spreche und handle, dann mache ich dabei immer deutlich, wer hier spricht oder handelt: Ich, eine Frau. Ich, eine Frau, sage dies oder ich tue jenes. Ich bin durch mein Geschlecht nicht festgelegt. Im Gegenteil: Mit dem, was ich sage und tue bringe ich ja gerade meine persönliche Differenz zum Ausdruck. Ich unterscheide mich aktiv von anderen Frauen. Ich tue dies nicht »als Frau« – denn das erweckt den Anschein, als gebe es einen Unterschied zwischen mir »als Mensch« und mir »als Frau«. Diesen Unterschied gibt es nicht. Mein Frausein lässt sich nicht von meinem Menschsein abtrennen, und genauso wenig von meiner Individualität. Ich, eine Frau, unterscheide mich durch das, was ich sage und wie ich handle, von allen anderen. Auch von anderen Frauen.

Genau diese Ungleichheit ist es, aus der heraus weibliche Autorität entstehen kann, die einen Ort bietet für das weibliche Begehren. Was meine ich damit?

Ich sagte schon, weibliches Begehren braucht eine Vermittlung, um sich in der Welt verwirklichen zu können. Wenn eine Frau sich mit ihrem Begehren einfach so, ganz allein in die Welt stürzt, dann ist das gefährlich. Eine Frau, die ohne jegliche Rücksicht auf die gesellschaftlichen Umstände handelt, kann sich selbst und anderen Schaden zufügen. Oder sie riskiert, von ihrer Umgebung für verrückt gehalten zu werden. Etwas nur zu begehren, das reicht nicht. Wer das eigene Begehren in die Welt tragen will, muss mit anderen darüber verhandeln. Weibliches Begehren braucht einen Maßstab, eine Orientierung, Hilfestellung, Rückenstärkung, Rat und Kritik – das ist weibliche Autorität: Die Vermittlung zwischen dem Begehren einer Frau und der Welt, so wie sie nun einmal ist.

Früher, vor der Frauenbewegung, war das weibliche Begehren gewissermaßen eingesperrt, unsichtbar. Es hatte kaum Möglichkeiten, sich zu äußern, weil über Frauen, die aus den gewohnten Bahnen ausbrachen, in der Regel gesagt wurde: »Sie tut das, obwohl sie eine Frau ist.« So, als sei das Frau-Sein eine Behinderung. Aber nun, dank der Frauenbewegung, ist das weibliche Begehren frei. Jetzt gibt es diese Möglichkeit, zu sagen: »Ich bin eine Frau, ich akzeptiere diese Tatsache, und kann nicht trotzdem , sondern gerade deshalb frei in dieser Welt handeln.« Was das konkret bedeutet, ist für jede Frau etwas anderes. Ihre Wünsche, Interessen, Hoffnungen, Absichten sind nicht festgelegt durch ihr weibliches Geschlecht, jede Frau kann sie in Freiheit herausfinden und verfolgen. Diese Erkenntnis, dieses weibliche Selbstbewusstsein hat die Frauenbewegung gebracht. Ans Licht gebracht.

Das weibliche Begehren lässt sich also nicht festlegen, jede Frau begehrt etwas anderes. Dennoch ist das weibliche Begehren aber nicht einfach nur individuell. Sondern es ist immer auch das Begehren, als Frau, als weibliches Subjekt in der Welt anwesend zu sein. Sagen zu können: »Ich bin eine Frau, und ich tue dies oder das.« So wie die junge Frau aus dem Film, die nicht einfach nur für ein Menschenrecht auf Discobesuche eintritt, sondern dafür, dass es möglich ist, eine Frau zu sein und gleichzeitig in die Disco zu gehen oder was auch immer eine Frau gerade tun will. Das weibliche Begehren hat immer einen bestimmten konkreten Inhalt. Es ist aber gleichzeitig immer auch das Begehren, sich nicht länger entweder einem Bild von Weiblichkeit anpassen zu müssen, das andere entworfen haben – seien es patriarchale Geschlechterrollen oder auch feministische Konventionen – oder aber die eigene Weiblichkeit verleugnen zu müssen, also gewissermaßen sich »wie ein Mann« zu verhalten – wie das so viele Frauen in vergangenen Jahrhunderten mussten, wenn sie aus den vorgegebenen Bahnen ausbrachen, und wie es heute zuweilen Frauen vorgeworfen wird, die etwas anderes tun, als das, was Feministinnen für politisch korrekt halten.

Das weibliche Begehren ist nicht einfach das, was in der westlichen, männlichen Philosophietradition der freie Wille ist. Der Wille ist subjektiv, etwas, das ich selbst habe, etwas, das mit meiner Vernunft, meiner Logik, meiner Entscheidung zu tun hat. Ich kann beschließen, dass ich etwas will. Das Begehren dagegen wird von etwas geweckt, das außerhalb von mir ist. Es ist eine Anziehungskraft im Spiel. Das Begehren lässt sich nicht willentlich herbeiführen. Es muss mir sozusagen geschehen, und dann kommt es darauf an, ob ich es wahrnehme, mich ihm hingebe, ihm folge, oder nicht.

Oft ist es das Leiden an einem Mangel in der Welt, das das Begehren einer Frau weckt. Sie kann die Zustände der Welt, so wie sie ist, nicht mehr ertragen, nicht mehr hinnehmen. Das Begehren von Frauen wird geweckt durch einen Mangel in der Welt, etwas, das ihnen fehlt, und zwar nicht, weil es ein objektives Unrecht wäre, so wie der Marxismus oder andere männliche Weltanschauungen objektives Unrecht theoretisch nachweisen. Das weibliche Begehren entsteht nicht aus dem Nachdenken über Statistiken oder aus einem moralischem Anspruch, sondern weil eine Frau vor ihrem inneren Auge eine Welt erblickt, die anders ist, als die, die sie vorfindet, und von der ihr Begehren angezogen wird. Aus dieser Vision entsteht der Drang, etwas zu tun, etwas zu verändern, und die Stärke und Risikobereitschaft, die dafür notwendig ist. Man könnte also sagen, es ist die Anziehung durch das Andere, die der Ausgangspunkt für eine Politik der Frauen ist, das Andere, das bisher vielleicht noch ganz unmöglich erscheint, das mich aber anzieht, weil ich es begehre.

Dieses weibliche Begehren ist politisch verdächtig. Frauen, die das »andere« begehren, das, was eigentlich für unmöglich gehalten wird, man könnte vielleicht auch sagen (die Beginen im 13. und 14. Jahrhundert zum Beispiel taten das), Gott, Solche Frauen brechen aus den gewohnten Bahnen aus. Sie entwickeln eine ungeheure Stärke. Sie gründen neue Lebensformen, neue Klöster, neue Philosophien. Sie erfinden neue Lebensformen, neue Wirtschaftsformen, neue Arten, Beziehungen zu führen. Sie lassen sich nicht einbinden in die Welt der gegebenen Realitäten, so wie sie nun einmal sind.

Im Patriarchat hat man deshalb versucht, dieses weibliche Begehren umzuleiten, weg von der Welt und ihren anderen Möglichkeiten, hin auf den Mann, den man als Mittler zwischen die Frau und die Welt stellte. Das weibliche Begehren und die Stärke, die es in einer Frau weckt, sollte sich nicht direkt auf die Welt richten, sondern auf den Mann. Luisa Muraro sagt:Die Männer haben sich den Frauen gegenüber an die Stelle Gottes gesetzt – und die Frauen haben das zugelassen, viele jedenfalls, nicht alle. So wurde das weibliche Begehren gezähmt, es war nicht mehr gefährlich.

Heute ist es anders. Nach der Emanzipation und dem Ende des Patriarchats sind Frauen eingeladen, die Welt mitzugestalten, in den Parlamenten, den Firmen, den Institutionen. Sie werden von dort nicht mehr ferngehalten, nur weil sie Frauen sind. Aber noch immer ist das weibliche Begehren an diesen Orten unerwünscht. Die Einladung der Männer an die Frauen lautet, sich als ihres Gleichen an den Projekten der Männer zu beteiligen. Auf ihre Weiblichkeit sollen sie dabei verzichten. Es ist die Versuchung des Neutrums, die heißt: Wir sind doch alle Menschen, das Geschlecht spielt keine Rolle. Früher sollten die Frauen nicht die Welt, sondern den Mann begehren. Heute hingegen sollen sie gar nichts mehr begehren, sondern professionell ihre Arbeit tun und funktionieren.

Aber so einfach lässt sich das weibliche Begehren nicht ausschalten. Das zeigt sich daran, dass auch heute, obwohl rechtliche Diskriminierungen verschwunden sind, obwohl es das Bemühen gibt, Frauen in die Institutionen einzubinden, sich Frauen in dieser Welt häufig fremd fühlen. Auch nach der Emanzipation machen sie die Erfahrung, dass die Welt auf ihr Begehren nicht gewartet hat.

Viele glauben deshalb, es habe sich noch nicht genug verändert, die Emanzipation sei noch nicht verwirklicht, wir lebten noch immer mitten im Patriarchat. Ich glaube das nicht. Sicher, es gibt immer noch Dinge, die verbessert werden könnten. Doch dies ist nicht der Grund für das Leiden und Unbehagen vieler Frauen. Der Grund ist vielmehr, dass sie die Anerkennung ihres Begehrens, ihres Frauseins letztlich, bei den Männern suchen, seien es konkrete einzelne Männer wie der Ehemann oder der Chef, oder die von Männern gemachten Institutionen, Gerichte, Parlamente und dergleichen. Aber dies ist nicht möglich. Die Verhandlungen über das, was Frausein bedeutet, und damit auch darüber, welchen Weg das weibliche Begehren in der Welt gehen kann, können Frauen nur untereinander führen. Dazu braucht es weibliche Autorität. Nur wenn es in der Welt weibliche Autorität gibt – nicht einfach nur neutral-menschliche – nur dann kann sich auch das Begehren der Frauen in der Welt ausbreiten und hört auf, nur in uns selbst zu brodeln.

Es ist so ähnlich wie ein Kind, das Hunger hat. Es schreit, es quengelt, aber es richtet sein Begehren nicht unmittelbar an die Welt. Es schreit nicht die Milch an, oder den Kühlschrank, sondern es stellt seine Ansprüche an eine weibliche Autorität: die Mutter. An diejenige also, die seinen Wunsch in die Welt tragen kann, die zwischen der Welt und dem Begehren vermittelt – in diesem Fall, die Milch holt.

Dass sich das weibliche Begehren mit seinem Wunsch, die Welt zu verändern, nicht an die gegebenen Institutionen – die Parlamente, die Regierenden, die Männer – richtet, sondern an weibliche Autorität, das haben italienische Philosophinnen mit dem Begriff »affidamento« bezeichnet. Affidamento heißt »sich anvertrauen«. Und zwar ist eben das gemeint, dass ich mich mit meinem Begehren der Autorität einer anderen Frau anvertraue.

Autorität hat eine Frau, die im Bezug auf mein Begehren über ein »Mehr« verfügt. Die mir Wege eröffnet, die ich alleine nicht gehen kann, indem sie mir etwas voraus hat. Die den Weg zum Kühlschrank kennt, um im Bild zu bleiben.

Es geht hier also um eine Differenz, die ein »Mehr« und ein »Weniger« beschreibt. Wir stellen zum Beispiel manchmal fest, dass eine andere Frau ein »Mehr« besitzt als wir. Sie ist zum Beispiel klüger, kann besser argumentieren, sie hat mehr Erfahrung. Sie kann vielleicht auch besser kochen, sie ist selbstsicher und authentisch, hat einen festen Glauben, kommt mit dem Leben zurecht. Was genau ihr »Mehr« ist, das steht nicht objektiv fest, etwa durch bestimmte Fähigkeiten, Machtpositionen oder Qualifikationen. Sondern es ist von unserem eigenen Begehren abhängig. Sie hat ein Mehr, das uns helfen könnte, diesem Begehren zu folgen. Leider führt aber die Begegnung mit dem Mehr einer anderen Frau oft entweder zu Neid oder zu Bewunderung. Beides ist schlecht.

Wenn das »Mehr« einer Frau bei den anderen zu Neid führt, dann entsteht nämlich schnell das Bemühen, die andere »klein« zu machen, ihr »Mehr« abzuschneiden. Vielleicht haben Sie es auch schon erlebt, dass in einer Gruppe einige mehr redeten als andere, und dass das dann kritisiert wurde. Oft wurde es als Ideal gesetzt, dass sich doch möglichst alle beteiligen sollen. Es liegt auf der Hand, dass dies eine Schwächung im Denken ist. Neid führt dazu, dass wir die Stärken und Fähigkeiten einer Frau nicht nutzen, sondern sie dazu bringen wollen, sich klein zu machen, sich auf unser Niveau herunter zu begeben.

Wenn das »Mehr« einer Frau bei den anderen zu kritikloser Bewunderung führt, dann ist das aber auch nicht besser. Ich denke zum Beispiel an das Phänomen der »Gurugruppen«, die in der Frauenbewegung entstanden sind: Also sozusagen Fangemeinden, die sich um eine besonders tolle Frau und Anführerin herum scharen, massenweise ihre Kurse belegen oder Bücher lesen, und die ihr Wertesystem aus der kaum hinterfragten Führungspersönlichkeit herleiten, was bedeutet: Entweder man schließt sich der Bewunderung für diese Führungsfrau an, dann kann man zu der Gruppe dazu gehören, oder man schließt sich ihr nicht an und muss draußen bleiben. Auch hier wird das Niveau sinken, denn es gibt keine Kritik, keine fruchtbare Diskussion.

Neid und Bewunderung führen zu zwei falschen Strategien im politischen Handeln: Neid führt dazu, jede Überlegenheit und Ungleichheit kategorisch abzulehnen und zu bekämpfen, Bewunderung führt dazu, Frauen in Machtpositionen zu hieven. Weder das Bild von Solidarität und Gleichheit, noch das von Macht und Gurutum führen uns weiter. Stattdessen sollte man dieses »Mehr« als Richtung sehen, in die das eigene Begehren uns streben lässt. Allerdings können diese Gefühle, Neid und Bewunderung uns auch auf die Spur unseres eigenen Begehren führen: Wenn ich neidisch bin, wenn ich jemand bewundere, dann ist das ein Fingerzeig, dass dort etwas liegt, das ich selbst begehre. Es könnte mich in Bewegung setzen und motivieren, etwas zu tun.

Weibliche Autorität, ist nichts, was wir erst erfinden müssen, machen müssen, einfordern müssen, sondern sie ist geradezu das erste, was wir vorfinden, wenn wir das Licht der Welt erblicken. Wir alle sind Töchter einer Mutter, deren »Mehr« es uns ermöglicht hat, in der Welt einenOrt zu finden.

Etwas zweites kann man noch von diesem Modell lernen: Dass nämlich die Kinder selbst bei dieser Vermittlungsarbeit aktiv sind. Sie sind keineswegs passive Objekte der mütterlichen Erziehungsarbeit, sondern sie fordern die mütterliche Vermittlung heraus: Sie wollen etwas, sie begehren. Sie krabbeln herum, probieren aus, plappern unverständliches Zeugs, fragen Löcher in den Bauch. Dies ist die andere Seite der Autorität: Dass da eine sein muss, die begehrt, die etwas will in der Welt, die Großes vorhat. Autorität ist nicht unbedingt auf eine bestimmte Person bezogen, sondern eher auf einen bestimmten Kontext: Er umfasst eine, die begehrt, das Begehren selbst, und eine, die dafür Autorität ist.

Das ist ein wichtiger Unterschied zwischen Macht und Autorität. Autorität »hat« man nicht als Person, sondern sie wird immer wieder ausgehandelt. Kinder etwa sind sehr gut im Verhandeln. Autorität kann man nicht einfordern oder sich auf sie berufen, sondern man kann nur feststellen, dass Autorität da oder nicht. Wenn man – auch zum Beispiel als Mutter – zu Machtmitteln greifen muss, ist das ein Zeichen dafür, dass die Autorität weg ist, dass sie von der anderen Seite aufgekündigt wurde: Entweder, weil kein Begehren mehr da ist, oder weil nicht mehr anerkannt wird, dass da ein »Mehr« ist, also die Fähigkeit, zwischen dem Begehren und der Welt zu vermitteln. Autorität kann niemals in Titeln oder sonstigen äußerlichen Zeichen festgefroren werden. Man könnte auch sagen, Autorität ist keine Sache, kein Objekt, sondern eine Beziehungsqualität, also eher ein Adjektiv als ein Hauptwort. Autorität »zirkuliert« zuweilen auch in Gruppen – wenn zum Beispiel eine Frau etwas sagt, und ihre Worte in einer anderen ein Begehren aufflackern lassen, wenn eine andere in diesen Worten für sich persönlich eine Antwort findet.

Nicht jede Beziehung unter Frauen ist allerdings so. Nicht immer ist in Frauenbeziehungen weibliche Autorität vorhanden. Die Kultur der Frauen hat in der Vergangenheit die Differenz nicht sehr geschätzt, auch Frauen haben das Begehren anderer Frauen klein gehalten, wenn diese von vorgegeben Frauenrollen abwichen oder den weiblichen Konformismus kritisierten, den es zuweilen auch in der Frauenbewegung selbst gegeben hat. Auch in der Frauenbewegung herrschte lange das Ideal der Gleichheit vor. Heute ist der Trend zwar ein anderer, die Gleichheit hat als Konzept ausgedient. Stattdessen spricht man gerne von Diversity, Vielfalt. Multikulti und so weiter. Aber hinter dieser bunten Vielfalt steht oft auch keine echte Differenz, die das Andere schätzt, sondern eher Beliebigkeit. Es ist die bunte Vielfalt von Merci: Die einen sind blau die anderen rot, die einen schmecken nach Nougat, die anderen nach Marzipan, das ist ganz nett, aber auch belanglos, gleich-gültig eben.

Wo weibliche Autorität anwesend ist, können Machtverhältnisse ausgehebelt werden und verlieren an Bedeutung. Die Bindung an weibliche Autorität macht frei – und nicht etwa die Unabhängigkeit, die es für Menschen ohnehin niemals geben kann.

Ein Beispiel aus meiner Erfahrung: Für mich ist im Bezug auf philosophisches Denken Luisa Muraro eine Autorität. Das heißt nicht, dass ich mit ihren Thesen an jedem Punkt einverstanden bin, bei manchen Fragen bin ich sogar dezidiert anderer Auffassung. Es bedeutet aber, dass ich ihr eine Bedeutung zuspreche. Dass ich die Qualität meiner Arbeiten an ihrem Urteil messe. Diana Sartori hat einmal vorgeschlagen, dem kategorischen Imperativ von Kant – handle stets so, dass die Maxime deines Handelns jederzeit eine allgemeingültige Maxime sein könnte – einen mütterlichen Imperativ entgegenzusetzen: Handle stets so, wie du handeln würdest, wenn ich (deine Mutter) dabei wäre.

Wenn ich nun also einen Aufsatz oder einen Vortrag schreibe, dann schreibe ich ihn – um mit Diana Sartori zu sprechen – so, als würden Luisa ihn lesen. Diese Frage habe ich im Hinterkopf. Und wenn ich ihr widerspreche, dann nach reiflicher Überlegung und einer Auseinandersetzung mit ihren Einwänden. Diese freiwillig eingegangene Autoritätsbeziehung, was mein philosophisches Denken angeht, macht mich gleichzeitig frei: Ich überlege mir nämlich nicht mehr, wie ich mich bei meinen Thesen gegen Einwände von Marx oder Hegel verteidigen könnte, was irgendein Universitätsprofessor dazu sagt, oder ob sie im gesellschaftlichen »Mainstream« Applaus bekommen. Solche Instanzen haben für mich ihre Autorität eingebüßt, sie sind mir kein Maßstab mehr. Aber ich konnte mich davon nur befreien, indem ich einen anderen Maßstab, eine andere Abhängigkeit sozusagen, dagegen eintauschte. Weibliche Autorität steht also meiner Freiheit nicht entgegen, sondern im Gegenteil: Sie ist ihre Vorraussetzung.

Autorität ausüben kann eine Frau nicht allein schon deshalb, weil sie klug ist, viel Sachwissen hat, oder eine bestimmte Fertigkeit oder Fähigkeit. Andrea Günter formuliert es so: »Autorität ausüben heißt, von sich selbst ausgehend zu sprechen, dabei persönlich Position zu beziehen, nämlich zu urteilen«1 – also weder einfach nur Fachwissen weitergeben, aber auch nicht einfach nur die eigene Meinung zu sagen, sondern aufgrund des Wissens und der Fähigkeiten, die eine hat, ein Urteil zu fällen, für das sie mit ihrer Person auch einsteht. Autoritätsbeziehungen setzen also voraus, dass eine bereit ist, zu urteilen, und die andere, sich an dieses Urteil zu binden.

Autorität birgt notwendigerweise Konflikte in sich. Wenn ich eine Autoritätsbeziehung aufbauen möchte, darf ich mich nicht auf die Suche nach Frauen machen, die dieselbe Meinung haben, wie ich. Ich muss eine suchen, über die ich mich ärgere, die mich dazu bringt, meine eigenen Meinungen über den Haufen zu schmeißen, die mich in Frage stellt oder vielleicht auch mich gar nicht weiter beachtet. Die mir, wenn ich mich als Künstlerin verwirklichen will, aber nur mittelmäßige Tontöpfe zustande kriege, sagt, dass ich auf dem Holzweg bin. Die mir, wenn ich mich beschwere, dass ihre Bücher so kompliziert zu lesen sind, sagt, weibliche Philosophie eigne sich eben nicht als Gutenachtlektüre.

Das sind natürlich nur Beispiele. Nur ich selbst kann entscheiden, ob eine Frau in der Lage ist, zwischen meinem Begehren und der Welt zu vermitteln. Aber das führt unweigerlich zum Konflikt, weil sie nämlich Dinge tut, auf die ich selbst nicht gekommen wäre, die nicht meinem eigenen Willen entsprechen. Oder, wie Andrea Günter schreibt: »Ob es volle weibliche Autorität gibt, wird erst in Konfliktsituationen offenkundig. Autorität gibt es dann, wenn wir mit einer Person hadern und wir dennoch nicht darum herumkommen, sie für das anzuerkennen, was sie tut oder für uns ist und zu sein vermag. Es gibt Autorität dann, wenn wir dem, was eine Person tun will, nicht zustimmen, und dennoch anerkennen, dass sie genau dies tut bzw. unser Verständnis der freien weiblichen Existenz in Frage stellt und somit für uns den menschlichen Horizont weiblicher Freiheit eingrenzt bzw. neu umreißt.«

Ich werde häufig gefragt, ob denn auch Männer in dem beschriebenen Sinne Autorität sein könnrn? Ja, denn dieses Wissen um die Bedeutung des Spieles von Autorität und Begehren ist zwar ein weibliches Wissen, es ist aus weiblichem philosophischen Nachdenken über weibliche Erfahrungen entstanden, aber es ist ein Wissen über die ganze Welt und wir können es daher auch den Männern anbieten. Mit einem wichtigen Unterschied jedoch: Wenn eine Frau mir Autorität ist, dann bietet sie mir nicht nur ein Mehr an im Bezug auf diese oder jene Absicht, auf diesen oder jenen Inhalt des Begehrens, also z.B. Philosophin sein, sondern auch ein Mehr im Bezug auf die Möglichkeiten des Frau-seins schlechthin. Was eine Frau tut, das betrifft mich, da ich ebenfalls eine Frau ist, auf andere Weise, als das, was ein Mann tut. Denn das Handeln von Frauen umreißt die Möglichkeiten dessen, was Frausein bedeutet. Über Philosophie kann ich auch von Männern etwas lernen. Über das Philosophin sein nur von Frauen.

Das, was die Männer tun, kann ich beobachten und daraus auswählen, was mir gefällt, was ich gebrauchen kann, was mir hilfreich erscheint. Ich kann mit ihnen sozusagen einen interkulturellen Dialog führen. Das, was Frauen tun, betrifft mich unmittelbar, ob ich will oder nicht, insofern es nämlich das Frausein selbst betrifft. Wenn alle Frauen plötzlich anfangen, sich die Beine zu rasieren, dann hat das für mich, eine Frau, eine andere Bedeutung, als wenn die Männer anfangen würden, sich die Beine zu rasieren. Ich muss mich dazu verhalten, mich damit auseinander setzen. Das, was Männer tun, kann ich ignorieren.

Ich sagte schon: Das eigene Begehren in die Welt zu tragen bedeutet, Konflikte zu riskieren. Weil die Welt auf dieses Begehren nicht geartet hat. Es kommt deshalb vor allem darauf an, die Verhandlungsstärke von Frauen in diesen Konflikten zu vergrößern, das ist meiner Meinung nach die wichtigste Herausforderung der Frauenbewegung heute. Alles in unserer Gesellschaft wird immer flexibler wird, immer weniger können wir uns auf Gesetze, Parteien, soziale Regeln, den Staat und so weiter verlassen – dies bedeutet einerseits größere Unsicherheit, ist aber gleichzeitig auch ein Zugewinn an Freiheit. Denn all diese Äußerlichkeiten haben das weibliche Begehren schon immer eher eingeschränkt als befördert. Die jüdische Feministin Eveline Goodman-Thau drückte das in einem Interview kürzlich so aus: Es geht heute nicht mehr um Rechte (die haben sich die Frauen bereits genommen) und auch nicht mehr um Rollen (wir haben die meisten, die wir spielen wollten, schon ausprobiert), sondern um die Regeln der Partizipation. Also darum, dass wir hart darüber verhandeln, unter welchen Bedingungen und Regeln wir bereit sind, zu kooperieren, mitzuarbeiten, Beziehungen zu führen.

Der Austausch zwischen weiblichem Begehren und weiblicher Autorität, die Stärke der Beziehungen von Frauen untereinander – und damit meine ich nichts abstraktes, sondern die konkrete Beziehung zwischen zwei Frauen aus Fleisch und Blut – macht es jeder einzelnen von ihnen möglich, ihr eigenes, persönliches Begehren aufzuspüren und entsprechend zu handeln. Weil sie ihrer selbst sicher ist, weil sie erfahren hat, dass eine Frau sein und frei sein sich nicht ausschließt. Eine Frau, die ihr eigenes Begehren – und damit ihre Existenz – nicht von der Anerkennung der Männer, der Gesellschaft, der Politik abhängig macht, gewinnt die Verhandlungsstärke, die notwendig ist für die Konflikte, die sie zu bestehen hat, wo auch immer das sei: Bei der Arbeit, in der Familie, in Initiativen und Projekten, in der »offiziellen« Politik. Aber sie handelt dort nicht im Namen »der Frauen«, sondern in erster Person. Sie tut das, was sie tut, aus der Stärke heraus, die sie in der Beziehung zu weiblicher Autorität gewonnen hat. Das hat die Welt verändert, und das wird die Welt auch weiterhin verändern.

Viele solcher Konflikte haben die Frauen aus der Frauenbewegung ausgelöst und erfolgreich ausgefochten. Nicht immer konnten sie sich durchsetzen. Aber das ist nicht das Entscheidende. Entscheidend ist: Sie haben diesen Konflikt nicht gescheut, sie waren sich ihrer Anliegen sicher, und sie waren sicher, dass diese Anliegen es wert sind, dafür auch Risiken in Kauf zu nehmen. Ihr Begehren und der Austausch mit anderen Frauen hat sie dabei getragen. Die Stärke der eigenen Position hängt von der Größe des eigenen Begehrens ab und davon, ob weibliche Autorität da ist, die mir hilft, diesem Begehren zu folgen. Sie hängt nicht von äußeren Faktoren ab – auch wenn diese natürlich hilfreich sein können.

Sicher muss sich auch »außen«, in der offiziellen Politik, in den Gesetzen und so weiter etwas ändern. Aber das ist sekundär. Es kommt zwangläufig irgendwann. Die eigentlich wichtige Änderung findet anderswo statt. Ein gutes Beispiel dafür ist für mich Dorothea Erxleben, die erste deutsche Ärztin. Sie lebte im 18. Jahrhundert in Quedlinburg und übernahm nach dem Tod ihres Vaters dessen Praxis. Die anderen Ärzte der Stadt klagten sie an, sie sei eine Scharlatanin, denn sie habe keinen akademischen Abschluss. Den konnte sie auch nicht haben, denn Frauen waren damals noch lange nicht zu den Universitäten zugelassen. Aber ihr Begehren, Ärztin zu sein, den Kranken, die zu ihr kamen, zu helfen, war so groß, dass sie es schaffte: Sie machte ihr Diplom und wurde die erste offiziell anerkannte Ärztin Deutschlands. Inzwischen ist es ganz normal, dass Frauen Ärztinnen sind, ihr Begehren muss dafür nicht mehr besonders groß sein. Irgendwann sind die Gesetze abgeschafft worden, die Frauen ausschlossen, aber der entscheidende Wendepunkt war nicht die Stunde, in der irgendein Bundestag oder Reichstag oder was auch immer irgendein Gesetz verabschiedete, sondern der Moment, als in Dorothea Erxleben, einer Frau, das Begehren erwachte, Ärztin zu sein und sie beschloss, diesem Begehren zu folgen. Dieses Begehren breitete sich aus in der Welt: Sie schrieb Briefe an den König, sie inspirierte mit ihrem Beispiel andere Frauen und so weiter, sodass das Unmögliche möglich wurde. Weil sich die Welt irgendwann nicht mehr vor diesem Begehren verschließen konnte.

Sich dies klar zu machen: Dass das weibliche Begehren das Erste ist, und die Reaktion der Welt auf dieses Begehren nur das Sekundäre, das zweitrangige, das ist gerade in der gegenwärtigen Zeit wichtig, in der viele staatlich geförderte Frauenprojekte geschlossen werden, in den Stellen für Frauenbeauftragte und dergleichen gestrichen werden. Das ist natürlich schade, und es ist gut, dass Frauen dagegen protestieren. Wir müssen aber aufpassen, dass wir hier nicht der Gegenseite eine Macht einräumen, die sie gar nicht hat. Kürzlich erreichte mich zum Beispiel eine Pressemeldung mit der Überschrift: »Das Ende der theologischen Frauenforschung«. Was war passiert? Die Uni Bonn, das Wissenschaftsministerium und der Bischof hatten beschlossen, den Lehrstuhl für theologische Frauenforschung an der katholischen Fakultät nicht wieder zu besetzen. Das ist natürlich ärgerlich. Aber es ist doch wohl nicht das Ende der theologischen Frauenforschung! Dieses Ende wäre erst dann festzustellen, wenn es keine Frauen mehr geben würde, die das Begehren hätten, in dieser Richtung aktiv zu werden.

Man muss kein Geld, keine Machtposition, keine materiellen Ressourcen haben, um das eigene Begehren in die Welt zu tragen. Hannah Arendt erzählt dazu folgende Begebenheit aus ihrer Kindheit: Immer wenn sie es in der Schule mit antisemitischen Äußerungen eines Lehrers zu tun hatte, hatte sie von ihrer Mutter die Anweisung, laut zu protestieren, sofort die Klasse zu verlassen und zuhause Bericht zu erstatten. Diese Rückendeckung seitens der Mutter, diese Bestärkung, machte es ihr möglich, zu widersprechen, zu protestieren, in den Konflikt zu gehen. Weil sie ihre eigene Freiheit an die Autorität der Mutter knüpfte – und nicht an die Anerkennung seitens des Lehrers oder der anderen Kinder – konnte sie auch in einer antisemitischen Umgebung frei handeln.2

Etwas zu begehren, das heißt Ansprüche zu stellen, richtig. Aber nicht Ansprüche im Sinne einer rechtlichen Forderung, im Sinne eines Pochens auf abstrakte Gerechtigkeit. Es gibt keinen Rechtsanspruch darauf, das eigene Begehren verwirklichen zu können. Sondern es bedeutet, Ansprüche in einer konkreten Beziehung zu stellen. Eine Autorität zu finden, die zwischen mir und meinem Begehren vermitteln kann. Eine Autorität, die im Bezug auf das, was ich begehre, ein Mehr hat: Ein Mehr an Ressourcen, an Wissen. Die mir Rat geben kann, die mir helfen kann, die mich aber auch warnt, wenn ich auf dem falschen Weg bin.

Natürlich richtet sich Frauenpolitik auch nach außen, an die offizielle Politik, an die Mächtigen. Wenn Frauen begehren und sich untereinander über ihr Begehren verständigen, dann werden sie aktiv: Sie tun etwas. Sie protestieren. Sie lassen sich wählen. Sie schließen sich zusammen. Möglicherweise mit Erfolg, möglicherweise nicht. Aber dieses Aktiv-werden, dieser Kampf um politischen Einfluss, dieser »Wille zu siegen«, wie es die Frauen des Mailänder Frauenbuchladens auch einmal formuliert haben3, all dies ist keineswegs eine Vorbedingung für weibliche Freiheit, sondern im Gegenteil ihre Folge . Es ist nicht so, dass Frauen schon Ämter und Geld und Einfluss haben müssen, um als freie Frauen ihr Begehren in die Welt zu tragen. Sonders es ist anders herum: Ihr Begehren ist der Motor dafür, dass sie all das tun. Nur eine Frau, die schon frei ist, kann frauenpolitisch handeln.

Was können wir also tun? Wie tragen wir die weibliche Freiheitsliebe hinaus in die Welt, damit sie sich ausbreitet? Vielleicht ist es ganz einfach: »Die Liebe zur Freiheit ist ansteckend«, sagt Luisa Muraro, »die Ansteckung erfolgt aber nicht, indem man den Feminismus lehrt, sondern indem wir unsere Freiheit und die der anderen lieben«.4

Vortrag am 7.5.2004 in Nienburg/Weser und am 31.5.2004 beim LFT in Gießen

Thesen zur weiblichen Differenz

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  1. Andrea Günter: Die weibliche Seite der Politik, Königstein 2001, S. 24 f. 

  2. Interview mit Günter Gaus im ZDF, 1963. 

  3. Sottosopra: Mehr Frau als Mann, Flugschrift des Mailänder Frauenbuchladens. In: Gisela Jürgens und Angelika Dickmann: frauen – lehren, Rüsselsheim 1996. 

  4. Luisa Muraro: Freiheit lehren. Vortrag im Sommer 2002 in der Evangelischen Akademie Arnoldshain.