Antje Schrupp im Netz

Wer hat, dem wird gegeben!

Die globale Wirtschaftsordnung und das achte Gebot: Du sollst nicht stehlen.

»Lo tignob« – stiehl nicht. Zwei kleine Wörter nur, ein sehr kurzes Gebot ist dieses achte aus dem Dekalog. Und nicht besonders eindeutig, denn: Was heißt schon stehlen?

Klar ist nur, dass es hier um die Eigentumsfrage geht, um das Verhältnis der Menschen zu den Dingen also. Man könnte auch sagen: um Wirtschaftsfragen. Für Norbert Walter, Chefökonom der Deutschen Bank und bekennender Christ, ist das Gebot eindeutig – es schützt das Recht auf Eigentum: »Wenn jemand das Eigentumsrecht Dritter nicht beachtet, dann ist das Sünde, ob es sich dabei um einen kleinen Dieb oder um ein großes Unternehmen handelt«, ist Walter überzeugt: »Wer bei den so genannten kleinen Dingen das Eigentum nicht beachtet, der kann in großen Dingen auch das Eigentum nicht beachten, und eine Wirtschaftsordnung, die auf dem Eigentum aufgebaut ist und bei der faktisch im Kleinen dagegen verstoßen wird, oder in der Stehlen als Kavaliersdelikt angesehen wird, eine solche Ordnung kann nicht funktionieren.«

Friedhelm Hengsbach, Professor für christliche Gesellschaftsethik an der katholischen Hochschule St. Georgen, sieht das ein wenig anders: »Die Situation, dass ein Einzelner gleichsam einen Raubüberfall startet oder in die Wohnung eines anderen einbricht, ist ja relativ zu dem, was insgesamt an gesellschaftlichem Reichtum vorhanden ist, eigentlich zu vernachlässigen. Das wären also wirklich Peanuts«, meint der Leiter des Oswald von Nell Breuning-Instituts für Wirtschaftsethik. Es gehe eher um Fragen der Gerechtigkeit, um die Entstehung von Reichtum, und um die Verteilung von materiellen aber auch immateriellen Gütern – und nicht so sehr um die Frage, »wie jetzt ein Bestand und eine Aufteilung materieller Güter möglicherweise durch kriminelle Energie korrigiert wird.«

Ist es Diebstahl, wenn ein Mädchen den Apfel aus Nachbars Garten klaut? Wenn sich ein Manager zweistellige Millionenbeträge als Abfindung zahlen lässt? Wenn jemand falsche Angaben macht, um Sozialleistungen zu bekommen? Wenn Menschen, die jahrzehntelang Beiträge eingezahlt haben, der Anspruch auf Arbeitslosenhilfe weggekürzt wird? Auch Wolfgang Kessler, Wirtschaftsredakteur der christlichen Zeitschrift Publik Forum, sieht durch das achte Gebot vor allem die Wirtschaft in die Pflicht genommen: »Stehlen im Sinne der Wirtschaft bedeutet, dass ich eine überlegene Machtposition dazu nutze, meinen Reichtum zu vermehren und den von anderen zu vermindern.«

Natürlich lässt sich ein Gebot, das dreitausend Jahren alt ist, nicht ohne weiteres als Anleitung für die Wirtschaft von heute nehmen, die auf völlig anderen Mechanismen beruht. In der agrarischen Gesellschaft des alten Israel gab es noch keine starken Gerichte, keine gut organisierte Polizei, keine soziale Absicherung. Deshalb war jeglicher Besitz etwas äußerst Prekäres: Eine Missernte, eine Seuche unter dem Vieh, und schon war der ehedem Reiche wieder arm, lief sogar Gefahr, versklavt zu werden. Die Freiheit der Menschen war damals unmittelbar mit dem Schutz ihres Eigentums verknüpft. Die evangelische Theologin und Ethikerin Ina Praetorius möchte deshalb das achte Gebot auf seinen ursprünglichen Sinn zurückführen: »Ich meine, dass es beim Diebstahlverbot um das gute Zusammenleben der Menschen geht. Und gut zusammen leben, das vermitteln mir meine Vorfahrinnen und Vorfahren mit diesem Gebot, können wir ihrer Erfahrung nach am besten, wenn wir so etwas wie ‚Eigentum’ respektieren. Ich finde das sehr wichtig: Das Zentrum des Gemeinten ist nicht das Eigentum, sondern das gute Leben.«

Heute hat Eigentum längst nicht mehr nur etwas mit den konkreten Dingen zu tun, die jemand besitzt: ein Haus, Werkzeuge, Vieh. Vielmehr besteht es zum großen Teil aus virtuellen Zahlen, aus Bilanzen, aus Papieren. In der globalisierten Wirtschaft ist der unbedingte Schutz des Eigentums deshalb vielleicht sogar eher eine Gefahr für die Freiheit der Menschen, für das gute Zusammenleben geworden: »Was sich wirklich geändert hat, ist die Macht der Finanzmärkte. Da stehen wir im Augenblick in der Gefahr, dass sich eine indirekte Diktatur bildet« meint der Wirtschaftsexperte Wolfgang Kessler. »Inzwischen werden an der Börse Renditen von 25 Prozent erwartet. Manche Unternehmen gefallen sich darin, 40 Prozent zu erzielen. Das bedeutet aber, dass diese Renditen bezahlt werden müssen, und sie werden von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bezahlt. Es fließt nämlich dann mehr Geld zu den Kapitaleignern an den Börsen, zu den Aktionären, das dann im Betrieb nicht mehr zur Verfügung steht.« Das sei auch der Grund, warum es immer häufiger vorkomme, dass Unternehmen geschlossen werden, die schwarze Zahlen schreiben, meint Kessler: »Sie erzielen nicht die Renditen, die an der Börse erwartet werden. Und die Leute sind arbeitslos.«

Aber nicht erst in Zeiten von Globalisierung und Finanzspekulationen stellt sich die Frage nach der Legitimation des Eigentums. In der christlichen Tradition hing die Auslegungsgeschichte des achten Gebots schon immer sehr eng mit der Frage zusammen, wem eigentlich was zu Recht gehört: »In der Zeit der Kirchenväter ging man davon aus, dass die Reichen, also diejenigen, die über großes Eigentum verfügten, dieses im Grunde eigentlich zurückgeben müssten an die Armen, oder jedenfalls einen Teil davon«, so Friedhelm Hengsbach. »Das heißt, Almosen geben war – so wurde es von einigen Kirchenvätern verstanden – nichts anderes als die Wiedergutmachung gegenüber denen, die nichts haben, weil, so hieß es: Ihr, die reich seid, habt den Armen das geraubt, was ihnen zusteht, und euer Reichtum ist nichts anderes, als der Raub.«

Auch in der Bibel selbst wird an vielen Stellen deutlich, dass sich das Diebstahlverbot nicht an die Armen und Habenichtse richtet, sondern vor allem an die Besitzenden, an die Kapitaleigner und Arbeitgeber würde man heute sagen: »Ihr sollt nicht stehlen, nicht täuschen und einander nicht betrügen. Der Lohn des Tagelöhners soll nicht über Nacht bis zum Morgen bei dir bleiben. In deinem Weinberg sollst du die abgefallenen Beeren nicht einsammeln. Du sollst sie dem Armen und dem Fremden überlassen«, heißt es im 3. Buch Mose, Kapitel 19. »Du sollst nicht stehlen« ist ein Gebot für Landeigentümer, für Weinbergbesitzer etwa, die Tagelöhner beschäftigen.

Auch im alten Israel ging es also bereits um Machtverhältnisse. Und das Eigentum zu schützen bedeutete damals wie heute, die Eigentümer auch in die Verantwortung zu nehmen, meint Wolfgang Kessler: »Es ist so, dass die Wirtschaft immer einen Machtkampf darstellt. Wenn dieser Machtkampf mit fairen Mitteln ausgetragen wird, Streik, Aussperrung Tarifverhandlungen, Interessengleichheit zwischen Arbeit und Kapitel, dann kann man von stehlen eigentlich nicht reden. Aber im Augenblick ist die Situation eine ganz andere.« Durch die Globalisierung gebe es einen großen Machtvorsprung für die Kapitaleigner, meint Kessler, und gleichzeitig große Nachteile für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. »Kapitaleigner, Aktionäre und einige Unternehmer versuchen, ihre Macht brutal durchzusetzen, über eigene Fehler hinwegzusehen, falsche Modelle zu produzieren, etwa im Automobilbereich, und dann aber dafür nicht selbst zu bezahlen, sondern die Arbeitnehmer mit längeren Arbeitszeiten bezahlen zu lassen«, kritisiert Kessler: »Da würde ich sagen, es stiehlt jemand schon dem anderenet was weg.«

Ina Praetorius geht sogar noch einen Schritt weiter: »Nicht nur die Kapitalbesitzer werden durch die geltende Praxis legitimiert, den Lohnabhängigen ihr Eigentum wegzunehmen. Die gesamte Geldwirtschaft ruht vielmehr auf einem Sockel unbezahlter Leistungen, etwa in Privathaushalten, in so genannter ehrenamtlicher Tätigkeit, in der bäuerlichen Landwirtschaft und so weiter, die systematisch unsichtbar gemacht werden,« so die Ethikerin. »Schon in der Bibel wird der Tanz ums Geld kritisiert, das sich von einem schlichten Tauschmittel schnell zu einem Symbol potenter Männlichkeit entwickelt hat. In diesem Kontext bedeutet dann der Satz ‚Du sollst nicht stehlen’: Du sollst nicht Geld und Eigentum in die Mitte deiner Aufmerksamkeit rücken, sondern das gedeihliche Zusammenleben aller Menschen. Und das heißt: Du sollst dafür sorgen, dass Menschen, die wesentliche Dinge für das gute Zusammenleben tun, nicht ihrer Lebensgrundlage beraubt werden, sondern ein würdiges Leben führen können.«

Folgt man hingegen dem Wortlaut des deutschen Strafgesetzes, dann fällt ungerechtes Wirtschaften nicht unter den Tatbestand des Diebstahls. Denn dort heißt es ganz formal: »Wer eine fremde, bewegliche Sache in der Absicht, sie sich rechtswidrig zuzueignen, wegnimmt, wird wegen Diebstahl bestraft.« Das Strafrecht und mit ihm die landübliche Auffassung vom Stehlen interessiert sich weder für die Frage der Gerechtigkeit, noch für die Nöte des Diebes oder dafür, woher der Eigentümer sein Eigentum eigentlich hat.

Das ist nach Auffassung von Norbert Walter auch durchaus richtig so: »Moral ist sicherlich nicht allein mit positiven Gesetzen beschrieben, das ist etwas darüber Hinausgehendes. Was ethisch ist, ist nicht nur das, was im Gesetzbuch steht«, so der Chefökonom der Deutschen Bank, der auch auf die im Grundgesetz festgeschriebene Sozialverpflichtung des Eigentums verweist: »Das drückt so etwas wie die Philosophie hinter diesen Dingen aus. Aber das ist ein moralischer Anspruch, und diesen moralischen Anspruch, den gilt es vor allem vor dem ewigen Richter einzuhalten, und vielleicht auch, um sich Anerkennung Wertschätzung, Liebe anderer Gesellschaftsmitglieder zu verschaffen, und dieser Anerkennungsmarkt ist ja etwas, der dann auch die Reputation, den Ruf einer Institution oder Person ausmacht. Insofern ist es relevant, es ist aber nicht relevant vor dem diesseitigen Richter und vor den Gerichten.«

Anders dagegen viele christliche Sozialethiker, die fordern, dass sich ethische Grundsätze auch in den Gesetzen und politischen Rahmenbedingungen niederschlagen sollen. Denn, so Friedhelm Hengsbach, es gehe hier nicht nur um Moral, sondern auch um Gerechtigkeit und um die Frage, woher das Eigentum, das jemand hat, überhaupt kommt: »Man ging früher davon aus, dass jeder Mensch durch seine eigene Leistung sich privates Eigentum erarbeitet. Im Zuge der gesellschaftlichen Verflechtung ist es aber immer mehr deutlich geworden, dass Reichtum gemeinschaftlich, also kollektiv erarbeitet wird. Und dann ist die Frage, wie dieser neu geschaffene Reichtum durch Arbeit, durch kollektive Arbeit in den Unternehmen und in den Betrieben verteilt wird. Und da gibt es ganz erhebliche Auseinandersetzungen über das, was den jeweiligen Leuten zusteht und was sie verdienen«, so der Sozialethiker: »Die Frage nach dem gerechten Lohn ist eine Frage, die gleichsam vorweg, bevor es um stehlen oder um rauben oder um Umverteilung geht, eine große Rolle spielt.«

Güter werden heute mehr denn je kollektiv erwirtschaftet. Die steigende Produktivität führt dazu, dass vor allem ungelernte Tätigkeiten kaum noch benötigt werden und die Löhne entsprechend sinken, während andererseits Manager oder Spitzensportler Einkommen erzielen, die ins Unermessliche steigen. Das hat weniger mit der individuellen Leistung zu tun, als vielmehr mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Eigentum, das aus ungerechten Strukturen hervorgegangen ist, sei aber nicht durch das Diebstahlverbot gedeckt, meint Hengsbach: »Weil der gesellschaftliche Reichtum ja nicht weniger geworden ist. Das Volkseinkommen, die gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung wächst ja, das heißt, es ist auch mehr an Gütern da, was für alle eigentlich bereit steht. Nur die Verteilung ist problematisch«, so der katholische Sozialethiker: »Der Reichtum bei den einen wächst und auch die Einkommen, doch auf der anderen Seite wächst auch die Armut, die Ausgrenzung und der Ausschluss.«

In der Tat: An materiellem Wohlstand herrscht heute, zumindest in westlichen Gesellschaften, eigentlich kein Mangel mehr. Güter können mit einen minimalen Aufwand an Arbeit produziert werden, es gibt sie in Hülle und Fülle – nur beim Konsum hapert’s: Die einen haben zu wenig Geld zum Einkaufen, die anderen haben so viel, dass sie gar nicht wissen, wofür sie es ausgeben sollen. Wie sieht der Christ und Bankenvorstand Norbert Walter die auseinanderdriftende Schere zwischen Arm und Reich, etwa in Bezug auf überhöhte Managergehälter? »Das ist eine schwierige Frage, und selbst wenn man dazu eine Antwort hat im Sinne des Moralischen, wäre es die Frage, ob es eine kluge Antwort ist, dass die Gesellschaft das, was sie da für sittlich hält, dann auch justiziabel macht.« Walter hielte es für klüger, »durch eine Predigt am Sonntag, die man auch anhört, weil man in die Messe geht, einen inneren und einen äußeren Anspruch zu bekommen, von dem Reichtum, den man im Markt erwirbt, mit anderen, als eigene persönliche Entscheidung, etwas zu teilen.« In den USA sei solches Sponsoring ganz natürlich, während es in Deutschland fast nicht mehr möglich sei: »Wenn man sich einmal outet als jemand, der eine Spende macht, ist man auch gleich als Reicher diffamiert und man wird fast immer als jemand angesehen, der zu Unrecht zu diesem Einkommen oder Vermögen gekommen ist.« Von Vorschlägen, etwa die maximale Höhe des Einkommens zu begrenzen, hält Walter nichts: »Es wäre mir nicht nur sympathischer, mir erschiene es auch produktiver für eine Gesellschaft, dass man einen Wertekanon entwickelt, in dem es selbstverständlich ist, dass jemand, der durch eigene Leistung und Glück zu besonders viel Einkommen und Vermögen kam, es für ethisch hält, davon zu teilen.«

Für diejenigen, die nicht viel Glück im Leben hatten, vielleicht auch weniger leistungsfähig sind, ist es jedoch kaum eine verlockende Aussicht, ihr Schicksal in die Hände derer zu legen, die möglicherweise freiwillig etwas von ihrem Wohlstand abtreten oder eben auch nicht. Ina Praetorius schlägt daher eine weiter gehende Lösung vor: Sie fordert einen Abschied von dem Mythos, dass nur diejenigen Geld bekommen dürfen, die etwas leisten: »Diese Fragen, wer was ‚verdient’ hat und wem was ‚zusteht’, waren wohl schon immer sehr kompliziert, wurden fast immer ungerecht gelöst und werden heute noch komplizierter. Ich glaube, dass es früher oder später nur einen sinnvollen Umgang mit all diesen Rechenaufgaben geben wird: das Umdenken in Richtung auf ein leistungsunabhängiges Grundeinkommen für alle.« Allerdings gebe es bei der Diskussion dieses Themas erhebliche Hindernisse. »Das Haupthemmnis ist keineswegs die Finanzierbarkeit«, glaubt Praetorius, »denn schon heute ist in Sozialstaaten in Form unterschiedlicher Modelle von Sozialhilfe das Existenzminimum gesichert. Viel schwerer ist es, vom Mythos der ‚Lohngerechtigkeit’ Abschied zu nehmen, also von der Idee, Lohn gebe es nur für Leistung, und nur, wer Geld in Aussicht habe, leiste etwas.« Die Gesellschaft könnte da viel von den Hausfrauen lernen, so die Ethikerin: »Die tun seit jeher grundlegende und sinnvolle Arbeit, ohne einen Lohn dafür zu bekommen.«

Vor allem feministische Denkerinnen haben in den letzten Jahren begonnen, nicht nur ungerechte Machtstrukturen und die größer werdende Schere zwischen Arm und Reich zu kritisieren, sondern auch die traditionelle »linke« Antwort darauf zu hinterfragen, die Besitz und Reichtum als etwas grundsätzlich Verdächtiges ansieht. Wurde noch in den fünfziger Jahren das achte Gebot Kindern vorgehalten, die in der Speisekammer Schokolade genascht hatten, so versuchten Pädagogen in nach-68-er Zeiten, das Diebstahlverbot zur relativieren. Eine Praxis, mit der die Freiburger Pädagogin und Philosophin Dorothee Markert schlechte Erfahrungen gemacht hat: »In den siebziger Jahren, in Folge der Studentenbewegung, wurde häufig so argumentiert, dass Diebstähle nicht so schlimm sind, dass ja Sachen nicht so wichtig sein dürfen, wie Menschen und Beziehungen. Aber da fehlt mir etwas. Denn ich habe die Erfahrung gemacht, dass es eine sehr tiefe Erschütterung mit sich bringt, wenn mir was gestohlen wurde – sowohl was die Beziehungen angeht, als auch im Bezug auf das grundsätzliche Vertrauen.« Bestohlen zu werden, sei immer sehr schmerzhaft, daher dürfe man das Stehlen auch nicht verharmlosen: »Dinge sind eben normalerweise nicht belangloses Zeug für einen, sondern man hat auch eine Bindung an diese Dinge.«

In ihrer Zeit als Lehrerin in Haupt- und Sonderschulen hat Markert beobachtet, dass Kinder sehr darunter leiden, wenn Dinge, die ihnen gehören, von anderen geklaut oder kaputt gemacht werden – häufig ohne, dass ein Lehrer einschreitet. Schon aus Selbstschutz vermeiden sie es dann, bestimmte Sachen lieb zu gewinnen und an ihnen zu hängen – was wiederum dazu führt, dass sie auch das Eigentum der anderen nicht achten. Auch die christliche Tradition hatte ihren Anteil an einer solchen Kultur, wenn sie den Verzicht auf weltlichen Besitz idealisierte und geistigen, spirituellen Reichtum höher schätzte, als die konkreten, materiellen Dinge des Alltagslebens: »Ich glaube, das hat schon mit dieser sehr stark durch Männer geprägten Auslegung dieser ganzen Geschichten zu tun, die diese ganzen materiellen Notwendigkeiten, die ja überhaupt Voraussetzung sind für Denken und weiteres, gerne ignorieren, weil sie selber nichts damit zu tun haben, sondern das von Frauen gemacht kriegen«, sagt Markert. Deshalb würden in unserer Kultur auch die Hausarbeitstätigkeiten, die die Pflege von Dingen angehen und das Reparieren und das Erhalten der Dinge, gering geschätzt. »Aber das alles hat mit der Bindung an Dinge zu tun. Diese Bindung entsteht ja auch durch die Pflege von Dingen, dass man sie nicht wegwirft, sondern repariert oder flickt zum Beispiel. Ich glaube, das ist eine Erfahrung, die Männer eher wenig gemacht haben, weil sie mit diesen Dingen im Haushalt nichts zu tun hatten.«

So entstand eine Tradition, in der die Sorge um geistige Dinge, um Freundschaft und Spiritualität hoch geschätzt, die Sorge um Dinge, um materiellen Besitz hingegen für unwichtig gehalten oder gar als kleinkrämerisch diffamiert wurde. Eine Tradition, die sich übrigens auch in der Auslegungsgeschichte des achten Gebots selbst niedergeschlagen hat. So sind viele jüdische wie christliche Ausleger der Meinung, das Diebstahlverbot richte sich eigentlich gar nicht so sehr gegen den Diebstahl von Dingen, sondern vielmehr gegen den Diebstahl von Menschen: Du sollst keine Menschen stehlen, du sollst andere nicht versklaven, sei damit eigentlich gemeint. Zur Begründung führen sie an, dass doch auch alle anderen Gebote sich mit den zwischenmenschlichen Beziehungen beschäftigten. Ein Argument, das Dorothee Markert für wenig stichhaltig hält. »Die Bindung an Dinge ist meiner Meinung nach nicht zu trennen von der Bindung an Beziehungen. Die entsteht eigentlich gleichzeitig: Mit der Bindung an die Mutter lernt das Kind ja auch bestimmte Dinge lieben und wertschätzen, und von daher ist das überhaupt nicht grundsätzlich zu trennen und darf meiner Meinung nach auch nicht gegeneinander ausgespielt werden.«

Das Verhältnis der Menschen zu ihrem Besitz hängt untrennbar zusammen mit ihrem Verhältnis zueinander. Das Gebot: »Stiehl nicht!« hat daher durchaus seinen Platz in einem Dekalog, der Ratschläge für die Art und Weise gibt, wie Menschen ihre Beziehungen zueinander gestalten sollen. In einer hoch technisierten und immer globaler agierenden Gesellschaft wird jedoch das Eigentum zunehmend von den konkreten Beziehungen der Menschen untereinander getrennt. Die Manager in einem Großkonzern kennen die Leute nicht, die aufgrund ihrer Entscheidungen arbeitslos werden. Die Finanzspekulanten, die an den internationalen Börsen agieren, haben keine persönliche Beziehung zu den Menschen in den Ländern, deren Volkswirtschaften durch ihre Kapitalverschiebungen ins Schleudern geraten. Und die Jugendlichen, die sich im Kaufhaus die Klamotten der neuesten Mode holen, ohne zu bezahlen, wissen gar nicht, wen sie hier beklauen.

Stiehl nicht – dieses Verbot ist nur schwer einzuhalten, wenn man die Beziehungen hinter den Dingen nicht mehr sehen kann. Ein Grund dafür, warum Diebstahl mehr und mehr zum Kavaliersdelikt wird, meint Friedhelm Hengsbach: »Wenn zum Beispiel bestimmte Auslagen schon auf der Straße, auf dem Bürgersteig Anreize geben, zuzugreifen, ohne in den Laden und zur Kasse zu gehen, dann denke ich, kann man nicht nur den einzelnen Menschen vorwerfen, dass sie die Regeln verletzten, sondern man muss auch fragen, welcher massive Druck von Seiten der Anbieter existiert, oder wie leicht sie es den Menschen machen, die dort vorbeigehen, mal eben zuzugreifen.« Hengsbach hält dies für ein wechselseitiges Verhältnis: »Eine Gesellschaft, die das Ökonomische, den Konsum dermaßen in den Vordergrund rückt, darf sich am Ende nicht wundern, dass Kinder, Jugendliche und auch erwachsene Menschen jede Gelegenheit wahrnehmen, gleichsam ‚unter Preis’ einzukaufen.«

Doch nicht nur das Wissen um die enge Verknüpfung zwischen Eigentum und menschlichen Beziehungen ist verloren gegangen. Das achte Gebot gründet auch auf einem tiefen Wissen, dass kein Mensch unabhängig und autonom ist, dass niemand sich sein Eigentum ganz allein erarbeitet hat, wie leistungsstark er auch immer sein mag. In der Bibel heißt es: »Wenn dich nun dein Gott in das Land bringen wird mit großen und schönen Städten, die du nicht gebaut hast, und Häusern voller Güter, die du nicht gefüllt hast, und ausgehauenen Brunnen, die du nicht ausgehauen hast, und Weinbergen und Ölbäumen, die du nicht gepflanzt hast – und wenn du nun isst und satt wirst, so hüte dich, dass du nicht Gott vergisst, der dich aus Ägypten, aus der Knechtschaft geführt hat, sondern du sollst deinem Gott dienen.« (5. Buch Mose, Kap. 6,10 ff). Die Freiheit, in Wohlstand und Sicherheit leben zu können, von Sklaverei und Fronarbeit frei zu sein, ist von Gott geschenkt, und das achte Gebot richtet sich an Menschen, die das wissen und die diese Werte und diesen Wohlstand erhalten möchten.

Das sei, meint Ina Praetorius, auch heute noch die Voraussetzung dafür, seinen Sinn wirklich zu verstehen: »Das Wissen, sich nicht selbst gemacht zu haben, ist das A und O jeder Ethik. Aber genau dieses A und O hat man im modernen Patriarchat ausgeblendet. Die Bibel ist zwar auch in gewissem Sinne ein patriarchales Buch. Aber dieses Wissen, dass ich, bevor ich selbst zu handeln begonnen habe, schon unendlich viel geschenkt bekommen habe, ist hier noch sehr lebendig.« Die moderne Ethik dagegen gehe davon aus, dass der Mensch als »autonomes Subjekt« beginne, also immer schon erwachsen und selbständig sei, kritisiert Praetorius: »Das ist für mich der Kardinalfehler moderner ‚metaphysikfreier’ Ethik und der Grund, dass die schönen alten Gebote so oft missverstanden werden.«

Stiehl nicht – dieses Verbot ist zu kurz, um ein Gesetz, ein politisches Programm daraus zu machen. Eher zielt es auf eine innere Haltung, den Willen, sich im Bezug auf wirtschaftliche Fragen ethisch gut zu verhalten. Anders als im Strafgesetzbuch ist deshalb in der Bibel auch der Diebstahl, also das heimliche sich Aneignen von Dingen, sehr schlimmer bewertet als der Raub, also das gewaltsame sich Aneignen von Dingen. Das Gebot nimmt nicht die Perspektive der Opfer ein, für die es ja schlimmer ist, nicht nur bestohlen, sondern auch noch körperlich angegriffen zu werden, sondern die Perspektive der Täter: Wer stiehlt, hat sich nicht nur die Sachen fremder Leute angeeignet, er hat zugleich auch noch gelogen, indem er seine Tat verschleiert, verheimlicht, oder eben auch rechtfertigt.

Menschen, die das Gebot »Du sollst nicht stehlen« auch im heutigen, globalisierten Wirtschaftsleben noch ernst nehmen, gibt es überall: bei den Reichen wie bei den Armen, bei den Unternehmern und in der Arbeiterschaft. Und überall findet man auch solche, die das Gebot missachten, indem sie nehmen, was sie kriegen können, glaubt Wolfgang Kessler: »Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass es Menschen gibt, für die es extrem wichtig ist, zu sich stehen zu können. Das muss nicht bedeuten, dass sie zu einer anderen Macht stehen, also zum Beispiel zu einer Macht, die man Gott nennen könnte. Aber sie wollen zu sich selbst als Persönlichkeit stehen können, und sich auch in ihrer Position nicht verbiegen, und sie vertreten dieses selbstbewusst nach außen. Und es gibt Menschen, die sehen ihre Karrierepflicht darin, einfach zu dienen. Diese Leute gehen in den Sachzwängen auf und rechtfertigen letztlich ihr eigenes Tun mit den Sachzwängen. Das hört sich dann so an: Hier stehe ich und kann nicht anders. Die Realität zeigt aber, dass man immer anders kann.«

»Lo tignob«, Du sollst nicht stehlen. Zwei kleine Wörter, ein kurzes Gebot. Am nächsten kommt seinem Sinn vielleicht das Wort, das sich aus dem hebräischen Wortstamm für stehlen, ganab, in der deutschen Sprache erhalten hat: Ganove. Sei kein Ganove, kein Schlitzohr. Kein cleverer Finanzstratege, der noch die letzte Gesetzeslücke ausnutzt. Rede dich nicht damit heraus, dass doch die Versicherung den Schaden bezahlt und auch nicht damit, dass du grade noch im Rahmen der Legalität bist. Es geht nicht darum, ob du erwischt wirst, und auch nicht darum, was die Konkurrenz macht. Stiehl einfach nicht. Sei fair im Umgang mit den Dingen, die anderen gehören. Verwende dein Eigentum verantwortungsbewusst. Ohne Spitzfindigkeiten, ohne Heimlichtuerei, ohne Ausreden.

In: Echter Verlag, 2005

sowie Radiosendung in hr2 am 10.7.2005