Antje Schrupp im Netz

Begehrenspolitik verweist auf das Mehr, das wir nicht kennen

in: Widerstand macht Lust. Feministische Reflexionen über Weibliches Begehren (Berlin 2015)

Das Wort desiderio – Begehren – spielt in den Texten der italienischen Differenzfeministinnen eine wichtige Rolle. Sie bezeichnen damit einen inneren Antrieb, eine Motivation, etwas zu tun, aktiv zu werden, sich zu engagieren: In dem Moment, wo wir etwas tun, das unserem Begehren wirklich entspricht, ist bei unseren Aktivitäten Strom drauf, anders als wenn wir aus Pflichtgefühl heraus etwas tun, oder weil wir ein schlechtes Gewissen haben oder weil es vernünftig ist.

Ein Beispiel aus dem Leben: Nach einem Vortrag, den ich in einer kleinen schwäbischen Stadt zum Thema politisches Engagement von Frauen gehalten hatte, erzählte eine Teilnehmerin in der anschließenden Diskussion, sie habe sich von ihrer Partei breitschlagen lassen, bei den Kommunalwahlen auf ihrer Liste zu kandidieren. Es wären doch sowieso so wenige Frauen in der Kommunalpolitik, und da habe sie sich verpflichtet gefühlt. Jetzt hoffe sie aber, dass sie nicht gewählt werde, weil sie nämlich eigentlich gar keine Lust auf Parteipolitik habe. Das ist ein Beispiel dafür, wie die Energie von Frauen verpufft, wenn sie nicht in der Richtung eingesetzt wird, die das Begehren weist.

Im Italienischen ist das Wort desiderio relativ geläufig im Alltag. Wenn man in ein Geschäft kommt, fragt zum Beispiel die Verkäuferin „Was begehren sie“? Im Deutschen hingegen hat das Wort eine leicht sexualisierte Konnotation, es verweist auf eine Anziehungskraft, die hier im Spiel ist. Diese Verschiebung hat sich im Umgang mit diesem Begriff als recht fruchtbar erwiesen. Denn tatsächlich ist das Begehren nichts Triviales, sondern zu begehren ist auch ein Geschenk, man kann es nicht herbeizwingen.

Begehren ist etwas anderes als der freie Wille, der ganz von mir selbst, von meiner Vernunft, gesetzt wird. Was ich begehre, das hängt nicht nur von mir selbst ab, sondern es gibt etwas, das mich anzieht, das ich attraktiv finde. Das kann eine andere Frau sein, die mir Vorbild ist, eine Idee, die mir Freude bereitet, von der ich überzeugt bin, die mir Kraft gibt, von der ich manchmal gar nicht wusste, dass ich sie hatte. Wenn ich etwas tue, das mit meinem Begehren in Einklang steht, wage ich es, eigene Grenzen zu überschreiten, empfinde mein Tun als sinnvoll und fühle mich lebendig.

Das weibliche Begehren ins Zentrum einer feministischen Praxis zu stellen ist ein Perspektivenwechsel. Es geht nicht mehr darum, Forderungen an andere – zum Beispiel „die Politik“ oder „die Männer“ zu stellen, sondern darum, die eigenen Handlungsmöglichkeiten zu erweitern, sich selbst und andere Frauen als maßgebliche politische Subjekte wahrzunehmen. Es ist dann auch nicht mehr nötig, dass sich „die Frauenbewegung“ aufDas heißt, gemeinsame Forderungen und oder eine gemeinsame Strategie treten demgegenüber in den Hintergrundeinigen muss. Das Begehren eröffnet einen Raum für weibliche Differenz, weil verschiedene Frauen unterschiedliches begehren. Darin sehen die Italienerinnen eine Stärke und keine Schwäche der Frauenbewegung.

Begehren ist nicht dasselbe wie ein Bedürfnis. Im ABC des guten Lebens (www.abcdesgutenlebens.de) schreiben wir dazu: „Ebenso wie die Bedürfnisse äußert sich das Begehren im Wünschen und Wollen. Doch während die Bedürfnisse dafür sorgen, dass Menschen (über)leben können, dass sie beispielsweise nicht verhungern oder erfrieren, drückt sich im Begehren die Sehnsucht nach einem „Mehr“ aus, das dem Auf-der-Welt-Sein Sinn gibt. Während es im Zusammenhang mit den Bedürfnissen ein Genug gibt, bezieht sich das Begehren immer auf ein Mehr auf Fülle.

Es gibt ein Wechselspiel zwischen dem Begehren einer Einzelnen und der Welt. Zwar ist das Begehren immer ein persönlicher Antrieb, durch den Menschen sich auch von anderen unterscheiden. „Doch da sie selbst Teil der Welt sind, zeigt sich auch im persönlichen Begehren eine Richtung, in die die Welt sich gerade entwickelt. So macht das Begehren ganz bestimmte Themen und Dinge anziehend und führt dazu, dass bestimmten Menschen vertraut und ihnen Autorität zugesprochen werden kann, weil der Eindruck besteht, dass ihr Begehren in eine ähnliche Richtung geht wie das eigene. In der Auseinandersetzung mit diesen Menschen und den Dingen der Welt kann ein Maßstab für das Handeln und ein geeigneter Weg gefunden werden, auf dem das Begehren in die Welt gebracht werden kann.“

Hinter einer Politik des Begehrens steht also ein Perspektivenwechsel – nämlich die Überzeugung, dass es für ein gutes Leben aller wichtig ist, dem subjektiven Beitrag einzelner Frauen Raum zu geben, damit sich ihr Begehren entfalten kann. Das bedeutet nicht, auf der Ebene des bloßen Wünschens zu verharren. Nicht alles, was ich mir wünsche, ist gleich schon Ausdruck eines Begehrens. Überhaupt ist es gar nicht so leicht, das eigene Begehren wirklich zu erkennen. Manchmal können andere, zum Beispiel eine gute Freundin, besser sehen, wo mein Begehren liegt, als ich selber – denn es besteht immer die Gefahr, dass meine Eitelkeit, mein Verstand, meine Phantasielosigkeit sich dem Begehren in den Weg stellt.